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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir
Autoren: Nazneen Sheikh
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und jeden unangenehmen Geschmack vertreibt.
    Ich lernte von meiner Großmutter, dass das richtige Verhältnis von Teeblättern und Wasser von entscheidender Bedeutung ist, was in gleichem Maße für die Qualität der frischen Milch gilt, von der man nicht nur einmal, sondern sogar zweimal Rahm abschöpfen konnte. Jede Abweichung von ihrem Rezept ließ meine Großmutter auf eine für sie typische Weise reagieren. Anstatt offen zu tadeln, weitete sie ihre Augen, bis eine Art graues Licht durch ihre topasfarbene Iris schoss, während sie vor dem Möchte-Gern-Tee mit den stilisierten Bewegungen eines Kabukischauspielers zurückwich. Es war ihr einfach nicht möglich, etwas zu akzeptieren, das nicht perfekt war, und eben dies zeugte von ihrem Mogultemperament - offensichtlich hatte sie genau jene Präzision geerbt, mit der ihre Vorfahren ein geometrisches Muster oder einen Plan für eine Eroberung entworfen hatten.
    Die theatralische Art, mit der meine Großmutter sorglos zubereitete Speisen und Getränke zurückwies, wurde später von drei Generationen meiner Familie übernommen. Für meine Großmutter steigerte der Wunsch, eine gut zubereitete Mahlzeit zu genießen, jedoch nicht nur ihre Vorfreude, er bürdete der Person, die diese Mahlzeit kochte, auch eine große Verantwortung auf. Nahrung zuzubereiten und sie dann zu essen war ein lebenswichtiges Ritual, bei dem nicht nur die Zutaten eine Rolle spielten, sondern bei dem es auch um Emotionen ging. Respekt, Anerkennung, Trost und sogar sinnliche Verlockung entsprangen dem, was andere einfach nur als eine Mahlzeit betrachteten.
    Meine Eltern, mein Bruder Shahid und meine ältere Schwester Mahjabin waren an diesem Morgen noch nicht zum Frühstück gekommen. Meine Großmutter sah mir aufmerksam zu, während ich aß. Sie gab mir dabei das Gefühl, dass es ihr eine große Freude sei, mir Gesellschaft zu leisten. An der Wand des schlichten, weiß gestrichenen Esszimmers wachte das Porträt meines bärtigen und pausbäckigen Großvaters über uns, eines Mannes, den ein solcher Mythos umgab, dass er sogar die lebendige Gegenwart meiner Großmutter zu überschatten drohte. Ich erwartete fast, dass er gleich aus dem sepiafarbenen Foto herausspringen und sie fragen würde, warum sie zum kaschmirischen Tee keine kulchas , harte runde Sesamkekse, serviert hatte. Meine Großmutter erzählte mir, dass mein Großvater ein echter Purist sei, dass sie aber dennoch das feinere Gebäck serviert habe, um mich zu verwöhnen. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Beweis ihrer Gunst ein Geheimnis zwischen uns bleiben sollte.
    Meine Großmutter saß in majestätischer Haltung am Tisch und sah dabei aus wie eine Königin, die gerade einem Märchenbuch entstiegen ist. Sie war eine schlanke Frau mit einer scharfen Adlernase, hohen Wangenknochen, einem vornehmen Mund und Augen, die die ganze Farbpalette von Topasen zeigten - es waren dies rein kaschmirische Gesichtszüge, in denen sich das Mongolische und das Persische perfekt vereinten, während mein Großvater die dunklen, blitzenden Augen, die fleischige Nase und den sinnlichen Mund der Türken und Afghanen besaß. Meine Großmutter trug ihr dunkles Haar, das von einzelnen Silberfäden durchzogen wurde, zu einem Zopf geflochten oder zu einem festen Knoten geschlungen im Nacken. Zu Hause ließ sie ihr Haar unbedeckt, wenn sie aus dem Haus ging, drapierte sie jedoch stets einen Schal aus zartem Georgette über ihren Kopf. In einem Land, in dem die Frauen im Sommer Sandalen trugen, trug sie feine Socken und Lederschuhe mit weichen Sohlen. Sie kleidete sich in sanfte Pastelltöne - weiß, himmelblau, gelegentlich auch einmal blassviolett - und unterließ es, ihre lebhafte Schönheit durch Schmuck oder Kosmetik zu unterstreichen.
    Ihre Spannkraft und Anmut verliehen ihr einen besonderen Stil, den ich heimlich zu kopieren versuchte. Wenn sie etwas sagte, dann artikulierte sie die Worte überaus majestätisch, wenn sie belustigt war, kicherte sie jedoch wie ein kleines Mädchen. In jenen Momenten vergaß ich fast, dass sie meine Großmutter war.
    Als sie sah, dass ich mein Frühstück beendet hatte, erhob sie sich in ihrem fließenden Gewand aus grauem Crêpe de Chine, und ich folgte ihr in die Küche. Als ich den schwach erhellten Raum betrat, legte sie ihren Arm um meine Schultern. Sie erklärte
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