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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir
Autoren: Nazneen Sheikh
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Familienfotos, der in einem braunen Umschlag im Keller meines Zuhauses in Toronto liegt, war für mich stets mehr als nur die langsam verblassende Montage einer Familiengeschichte. Diese Fotos zeigen Küchenchefs, Liebende und Zauberer, von denen jeder Gerichte zubereitet hatte, die die absolute Krönung eines ohnehin schon verblüffenden Repertoires darstellten.
    In den zeitgenössischen Kochbüchern der südasiatischen Küche mit ihren schillernden Farben und kunstvollen Fotografien fanden und finden die kaschmirische Mogulküche und deren dynamische Evolution nur wenig Beachtung. Meine geliebten Verwandten waren jedoch allesamt mit der Gabe gesegnet, aus dem Gedächtnis heraus kochen zu können. Sie überschütteten mich nicht nur mit Liebe, sie vererbten mir auch diese Gabe. Und so konnte ich, Kontinente weit von meinem Zuhause entfernt, in meiner kanadischen Küche sitzen und ihre Gerichte kochen. Manchmal jedoch schien mir irgendeine undefinierbare Zutat zu fehlen, so dass das Gericht ein wenig anders als bei ihnen schmeckte. In diesem Fall war ich mir stets sicher, dass meine Verwandten das Essen, das sie für mich gekocht hatten, mit ihrer Persönlichkeit gewürzt hatten. Ihre persönlichen Geschichten zu erzählen und ihre Rezepte vorzustellen, damit sie jederzeit und zu jeder Gelegenheit nachgekocht werden können, wäre, so fand ich, als gäbe ich ein Mogulbankett. Und so bitte ich Sie nun an den Tisch meiner kaschmirischen Familie, um ihr beim Frühstück, Mittag- und Abendessen Gesellschaft zu leisten.

1
    Eine Hand voll grüner Teeblätter
    O MOND MEINER WONNE, NIE WIRST DU SCHWINDEN!
DOCH STEIGT AM HIMMEL SCHON DER
ANDRE MOND EMPOR,
WIRD OFT IN DIESEN GARTEN SCHEINEN,
WIRD MICH JEDOCH DORT NICHT MEHR FINDEN!
    - Omar Chaijam, Rubaijat

    Meine Großmutter goss rosafarbenen Tee aus dem Samowar in eine Tasse. Ich sah, wie sich ihre geraden schwarzen Augenbrauen zusammenzogen, während sie eine Spirale aus hauchdünnen Teigfladen in den Tee schnitt. Flocken aus goldenem bakarkhani tanzten auf der Oberfläche, sanken dann langsam zu Boden und bildeten dort schließlich einen leckeren Klumpen. Ich war damals zehn Jahre alt und hatte gerade zum ersten Mal in meinem Leben das Vergnügen, ein typisch kaschmirisches Frühstück serviert zu bekommen. Dies war auch das erste Mal, dass ich meine Großmutter, die in der pakistanischen Stadt Rawalpindi lebte, zu Hause besuchte.
    Sie schob mir die Tasse über das weiße Tischtuch hinweg zu. Als ich in den Tee blies, weiteten sich ihre mit Kajal umrahmten Augen, und ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Sie beugte sich nach vorn, atmete über der Tasse tief aus und erinnerte mich so auf feinsinnige Weise daran, nicht so heftig zu pusten. Gleichzeitig räumte sie damit aber auch ein, dass alles, was bei ihr auf den Tisch kam, kochend heiß war.
    Beim ersten kleinen Schluck hatte ich das Gefühl, von einer großen Welle überspült zu werden und dabei versehentlich Seewasser zu schlucken. Der Geschmack, der auf meiner Zunge zurückblieb, war jedoch seltsamerweise überaus angenehm. Meine Großmutter erklärte mir, dass der rosarote Tee gesalzen war. Als ich den Tee in Windeseile ausgetrunken und das darin versunkene Gebäck herausgelöffelt hatte, schenkte sie mir eine weitere Tasse Tee ein und reichte mir noch einmal Gebäck. Sie machte mich auf das Geräusch aufmerksam, das der Fladen machte, wenn er zerriss, und gab mir dabei auf ihre dezente Art eine Lektion darin, wie man erkannte, ob er frisch war. Ich fragte mich, ob dieses Frühstück speziell für mich gedacht sei und hoffte, dass es schon bald die beigefarbene Milch mit Ovomaltine ersetzen würde, die ich sonst zur Teestunde immer trank.

    Die dunkelgrünen Teeblätter aus Kaschmir ähneln dem Oolong-Tee Chinas. Da Kaschmir an China angrenzt, nimmt man an, dass dieser grüne Tee von Händlern über die Seidenstraße importiert wurde, bevor die Britische Ostindiengesellschaft 1773 in den Bergen von Darjeeling, Assam und Nilgri einheimische Teesträucher entdeckte.
    Der kaschmirische Tee schmeckt aufgrund seiner Zubereitung anders als jeder andere Tee. Die Teeblätter werden in Milch gekocht, was den herben Geschmack des Tannins mildert und dem Sud eine blassrosa Farbe verleiht. Während die Milch köchelt, setzt sich an der Oberfläche Rahm ab, der den Gaumen besänftigt
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