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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir
Autoren: Nazneen Sheikh
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vorsichtig Lotoswurzeln schnitt, das Symbol für diese faszinierende geschichtliche Vergangenheit.
    Der Schlüssel zur kulinarischen Geschichte meiner Familie liegt in den Händen von Dil-Aram, meiner Großmutter mütterlicherseits. Obwohl meine Mutter und ihre sieben Geschwister alle ausgezeichnet kochten, kehre ich in Gedanken immer wieder in die Küche meiner Großmutter zurück, jenen Ort, an dem nicht nur geradezu magische Gerichte entstanden, sondern der auch die Wiege unserer dramatischen Familiengeschichte war. Als Kind durfte ich diese Küche, die für mich die Ausmaße von Ali Babas Räuberhöhle hatte, jederzeit betreten und mich sogar darin verstecken. Meine Großmutter wurde durch ihre Einstellung zum Kochen noch faszinierender für mich. Präzision, Fantasie und der Wunsch, anderen Menschen stets eine Freude zu machen, waren charakteristisch für sie. Bei ihr gab es keinen Platz für Fehler. Die Zubereitung eines Menüs war ein allumfassendes Werk, bei dem Farbe, Textur und Design eine bedeutende Rolle spielten. Kochen ist Zauberei, das lehrte sie mich - ein gelungenes Menü konnte einen Gast dazu bringen, in Versen zu sprechen, hemmungslos zu weinen oder zwischen den einzelnen Gängen zu tanzen.
    Als ich Pakistan verließ und nach Kanada ging, verstand ich endlich, in welches Dilemma meine Eltern geraten waren, als sie ihre Heimat verloren hatten. Ich erkannte aber auch, dass jede Kultur dem Wandel unterliegt. Meine Sehnsucht nach dem Land meiner Kindheit ist in den Erinnerungen an das Essen fokussiert. Ich weiß, dass ich ein ausgezeichnetes Mahl serviert habe, wenn sowohl der Gaumen als auch die Erinnerungen angesprochen werden. Vor allem aber ist Essen ein Ausdruck von Liebe und Zufriedenheit.
    Das Erstaunlichste an der Kochkunst ist die Tatsache, dass sie transportabel ist: Jede beliebige Mahlzeit kann überall und zu jeder Zeit zubereitet werden. Als ich während eines schriftstellerischen Forschungsurlaubs in einem kleinen, abgelegenen Dorf in Italien lebte, lud ich einmal meine einzige Freundin, die Eigentümerin des dortigen Dorfladens, zum Abendessen in meine Villa auf dem Hügel zum Essen ein. Es sollte Safran-Mandel-Huhn nach dem Rezept meiner Mutter geben. Ich verbrachte mehrere Stunden damit, Gewürze mit einem kleinen Hammer zu zerstoßen, den ich in einem Werkzeugkasten gefunden hatte, vergoss Tränen, weil ich keinen geeigneten Ersatz für Basmatireis finden konnte und beschimpfte lauthals den italienischen Arborio mit seinen runden Körnern. Schließlich tröstete ich mich damit, den Mohn am Hang unterhalb des Hauses als Tischschmuck zu ernten. Mein Gast sah mir tief in die Augen und stellte dann fest, dass ich eine echte Römerin sei. Ich wiederum sagte ihr, dass sie eine Mogulin sei, weil sie mit Wein aus ihrem Dorf Ortuccio, das in den Abruzzen liegt, und mit frisch gebackenen Keksen gekommen sei. Nur wenige andere kreative Tätigkeiten besitzen dasselbe Potential wie das Kochen, wenn es darum geht, anderen und sich selbst eine Freude zu machen.
    In Nordamerika stellte ich fest, dass die Menschen dort genauso vom Essen besessen waren. Überraschenderweise bekundeten viele von ihnen eine Sehnsucht nach verloren gegangenen Aromen und Traditionen, aber auch nach neuen Grenzen. Ganzheitliche, naturheilkundliche und auf Gewichtsreduktion ausgerichtete Kochbücher sprangen mir geradezu von den Regalen der Buchläden entgegen. In Fernsehsendungen waren Menschen zu sehen, die nach der gerade vorherrschenden Mode schnippelten und falteten. Die Bildersprache war überwältigend, aber es gelang mir nicht, mich mit diesen »fashionistas« der Kochkunst zu identifizieren, und oft ließ ich in Restaurants das Essen zusammen mit einer Nachricht an den Küchenchef zurückgehen. Ich suchte nach Aromen und Texturen, die sowohl Respekt als auch Leidenschaft ausdrückten. Ich wollte Sternschnuppen sehen, Perlen in Austern finden und unverzüglich ein Gedicht über ein unvergleichliches Geschmackserlebnis schreiben. Was meinen Körper nährte, musste auch meiner Seele Nahrung geben. Ich zog einmal sogar voller Kühnheit in Erwägung, dieses Buch in Versen zu schreiben.
    Dann aber dachte ich an meine große kaschmirische Familie in Pakistan. Obwohl auch mein Leben abenteuerlich verlaufen ist, könnte ich doch keine interessantere Gruppe von Charakteren heraufbeschwören. Der Stapel von
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