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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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nicht wirklich miteinander, sie leben nebeneinander. Und meine Eltern bilden darüber hinaus auch noch eine Minderheit in der Minderheit. Sie gehören dem deutschsprachigen böhmischen Adel an, einer ziemlich geschlossenen Gruppe, die auch zur deutschen bürgerlichen Gesellschaft kaum Kontakt pflegt. Die Gäste bei uns zu Hause sind fast ausschließlich Menschen aus dieser Bevölkerungsschicht, in der alle irgendwie miteinander verwandt sind und so etwas wie eine große Familie bilden. Meine Eltern besuchen an den Wochenenden die Schlösser in der Umgebung oder treffen die Bekannten in der »Ressource«, dem Adelsklub, in den die Landleute gehen, wenn sie in Prag zu tun haben.
    Welche Nationalität haben die böhmischen Aristokraten eigentlich? Sie sind nicht Sudetendeutsche, wie sich die Deutschen in der Tschechoslowakei gern nennen, in bewusster Abgrenzung von den Tschechen. Das auf keinen Fall. Aber sie sind auch keine Tschechen. Mein Vater bezeichnet sich selbst als »Böhme deutscher Zunge«, in den Worten des Philosophen Bernard Bolzano, der in der Zeit vor 1848 für eine Art von böhmischer Identität außerhalb der nationalen Gegensätze eintrat. Ein Böhme deutscher Zunge ist kein Deutscher und kein Tscheche, sondern eben ein Böhme, und das sei, wie mein Vater hinzufügt, »eine ausgestorbene Spezies«, wie das Mammut. Der Patriotismus des Böhmen orientiert sich an seinem Land, nicht an seiner Sprache. Es ist ein altmodischer Patriotismus, der in die vornationale Epoche des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Im Rückblick scheint es mir, dass meine Eltern und deren Standesgenossen auch sonst ein Überbleibsel aus dieser Zeit dargestellt haben, nicht wirklich im 20. Jahrhundert angekommen.
    Das Wort Böhme und Böhmen gibt es übrigens in der tschechischen Sprache gar nicht. Die Tschechen sprechen von Sudetendeutschen, »sudetáci«, wenn sie die nationalgesinnten Deutschen in ihrem Lande meinen. Wenn von deutschsprachigen Bürgern die Rede ist, die gleichwohl gute Bürger der tschecholowakischen Republik sind, heißt das »naše Němci«, unsere Deutschen. Diese finden sich vornehmlich unter den Aristokraten, die zu Hause deutsch sprechen, aber ihre familiären Wurzeln oft anderswo in Europa haben, und unter den Juden.
    Sowohl die Aristokraten als auch die Juden sprechen auch Tschechisch, was die Sudetendeutschen meistens nicht tun. In der Zeit des Sprachenstreits in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts musste der österreichische Ministerpräsident Kasimir Badeni zurücktreten, weil er ein Gesetz befürwortete, das von den Landesbeamten im Kronland Böhmen die Kenntnis der Landessprache verlangte. Das wollten die Deutschen im deutschsprachigen Landesteil auf keinen Fall akzeptieren. Ich bin stolz darauf, diese Dienstbotensprache nicht zu sprechen, erklärte damals ein deutschnationaler Abgeordneter. Das sei wohl das Allerdümmste, erklärt uns mein Vater. Wenn man schon auf etwas stolz sein müsste, dann auf etwas, das man könne, und keinesfalls auf etwas, das man nicht könne.
    Er selbst, ebenfalls aus dem deutschsprachigen Westböhmen stammend, hat erst als junger Erwachsener Tschechisch gelernt, als die Tschechoslowakei unabhängig wurde und er sich plötzlich nicht mehr als Österreicher, sondern als Tschechoslowake wiederfand. »Wer wird uns denn jetzten regiern«, sang man damals, »ja, der Tschechoslowak, mit Zylinder und Frack, und der Böhm, der sagt to je tak«. Papi spricht korrekt, aber nicht wirklich gut tschechisch. Meine Mutter, in Südböhmen aufgewachsen, spricht es fließend. Wir Kinder schnappen die Sprache von unseren Hausangestellten auf und von den sogenannten Meierhofkindern, mit denen wir im Sommer auf dem Land, bei unseren Großeltern, zusammenkommen. Unser Tschechisch ist ein »Kuchltschechisch«, fast akzentfrei und flüssig gesprochen, aber auf eher bescheidenem Niveau. Die Buben kultivieren mit Genuss einen breiten Prager Vorstadtslang. Dann sagt die Großmama mit sanftem Tadel: »Kinder, nicht im Salon.«
    Außer unseren Hausmädchen kennen wir praktisch keine Tschechen näher. Da sind nur die Leute in den Geschäften, die Kondukteure in der Elektrischen, unsere Nachbarn, mit denen wir »auf Grüßfuß« stehen. Aber Bekannte der Eltern, die in unserem Haus aus und ein gehen? Niemand fällt mir ein. Mein Vater hat einen gewissen Zugang zur Welt der Tschechen, er hat am Orientalischen Institut der deutschen Universität einen Lehrauftrag für japanische Sprache und Kultur
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