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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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Katholiken. Normalerweise gehen wir sonntags in unserem Bezirk Smíchov in die dortige Kirche, ein Jugendstilgebäude, das ich nicht mag und wo tschechisch gepredigt wird. Ich verstehe davon kaum die Hälfte. Die Predigt dauert endlos, und immer kommt darin »ein französischer Schriftsteller« vor, der entweder durch seine Gottlosigkeit oder, im Gegenteil, durch seine Bekehrung bemerkenswert ist. Wir jammern die Eltern an, ob wir nicht erst nach der Predigt kommen könnten, um dann streng zurechtgewiesen zu werden: Macht’s keine Gschichten, denkt’s daran, was die Märtyrer alles haben aushalten müssen. Das ist auch wieder wahr. Aber in der Thomaskirche wird deutsch gepredigt, und nachher trifft man Bekannte und »macht ein Standl«, das heißt, man steht noch ein wenig auf der Straße und plaudert.
    Die Kleinseite war im 19. Jahrhundert stark deutsch dominiert, an den Häusern sieht man noch heute viele deutsche Aufschriften. Es gibt viel Barock, viele Klöster und Kirchen, die größte ist die Niklaskirche auf dem Kleinseitner Ring. Ich fürchte mich darin ein wenig, denn im großmächtigen Kirchenschiff stehen einige riesige Statuen der Kirchenväter, von denen einer gerade einen kleinen Teufel aufspießt. Der Teufel repräsentiert das Laster, erfahre ich, aber irgendwie fühlt man sich auch selber betroffen. Die drohenden und durchaus nicht väterlichen Kirchenväter sollten einst wohl auch die unbotmäßigen Protestanten im Lande einschüchtern. Die Kleinseite ist »unsere« Seite, aber auch die Tschechen lieben sie von jeher als eine Art romantische Enklave in ihrer Stadt. Künstler zogen gern dorthin, und der Autor Jan Neruda hat hier seine berühmten »Kleinseitner Geschichten« angesiedelt.
    Der idyllischste Teil der Kleinseite ist die Kampa, ein Inselchen in der Moldau, deren Nordspitze halb unter der Karlsbrücke gelegen ist. Eine alte Mühle steht dort, samt riesigem hölzernem Mühlrad. Auf der Kampa gibt es einmal in der Woche den Töpfermarkt, auf dem allerhand tönernes Geschirr feilgeboten wird, Krüge, Schalen, Töpfe. Und das Beste: auch winziges tönernes Puppengeschirr. Ich habe ein paar Kampa-Töpfchen zu Hause in meinem Kinderzimmer, kostbare Schätze.
    Mich hat das Kleinseitner Barock fürs Leben geprägt. Nicht die Malerei, aber die Architektur des Barock ist mein Stil. Die Tschechen hingegen haben darin immer die Kunst der Gegenreformation, der Habsburger, der Fremdherrschaft gesehen. Ihre Liebe gehört der Gotik, dem Historismus und der klassischen Moderne, kurz, der eigenen Kunsttradition. Für mich aber war und ist das Barock das Schönste, auf der Kleinseite vor allem die Heiligenfiguren auf den Dächern, die aussehen, als ob sie sofort abheben und wegfliegen wollten.
    Jenseits der Moldau liegt im Süden die Neustadt und im Norden die Altstadt – wieder eine andere Welt und Ursprung von tausend Geschichten und Geheimnissen, von denen ich nicht genug bekommen kann. Die Sternenuhr auf dem Altstädter Rathaus mit dem Totengerippe, das zur vollen Stunde das Totenglöckchen läutet. Der Altstädter Ring, wo die protestantischen böhmischen Herren geköpft wurden, unter ihnen als einziger Katholik ein Graf Czernin, dessen Nachfahren wir gut kennen, während ein anderer Czernin auf der Richtertribüne saß und diskret seinen Platz verließ, als sein Cousin an die Reihe kam. Die Teynkirche, in der irgendwo die Köpfe der Rebellen bestattet sind, niemand weiß, wo. Die Judenstadt, wo der Golem umging. Ein bisschen unheimlich ist das alles, sehr anders und sehr faszinierend.
    Wir kommen nicht oft in die Altstadt. Niemand, den wir kennen, wohnt dort. Aber einmal nimmt mich eine Schulkollegin dorthin mit, das Engele. Das Engele ist ein kleines, rothaariges Mädchen namens Gertrude Engel. Sie hat Polypen, sie spricht mit seltsam näselnder Stimme und sieht, hexenhaft blass, mager und sommersprossig, selbst ein wenig aus wie eine Gestalt aus einem der Altstädter Sagenbücher. Ihre Eltern haben einen Kellerladen am Altstädter Ring, den will sie mir zeigen. Man muss ein paar Stufen hinuntersteigen, um das Geschäft zu betreten. Es ist kühl und dämmerig. Blumen und Pflanzen werden hier verkauft, vor allem aber Kakteen. Da stehen sie in langen Reihen, große und kleine, stachelige und flaumige, gurkenförmige und kugelförmige. Ich mag keine Kakteen. Wie lauter abgeschnittene Köpfe, muss ich plötzlich denken, in Anlehnung an die geköpften Herren vom Prager Blutgericht. Mir wird mulmig zumute.
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