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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort
Autoren: Lutz van Dijk
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gegessen. Und ich Schokolade. Obwohl wir nun von der englischen Polizei zunächst noch an Bord in Kabinen eingesperrt wurden, waren wir in ausgelassener Stimmung. Wir sangen Lieder und bestätigten uns immer wieder gegenseitig, dass wir es geschafft hatten. Jeder verdrängte die Angst,
eventuell nach Syrien abgeschoben oder gar nach Frankreich zurückgeschickt zu werden.
    Wir hatten Glück: Wir kamen in ein großes, weit außerhalb der Stadt gelegenes Internierungslager mit Stacheldraht und strenger Bewachung - aber in Palästina. Als wir im Hafen in einen Bus umsteigen mussten, der uns zum Lager bringen sollte, riefen plötzlich zwei Mädchen meinen Namen: »Cilly! Cilly!« Dahinter standen zwei Erwachsene, die mir zuwinkten, die ich aber nicht erkannte. Für einen kurzen Moment konnten sie dichter herankommen und riefen: »Wir sind Verwandte aus der Tschechoslowakei! Wir haben dich gesehen, als du mit fünf Jahren bei deinen Großeltern zu Besuch warst!« Du liebe Zeit, das war vor sechzehn Jahren gewesen! Trotzdem machte es mich froh, dass mich hier schon jemand erkannt hatte und die Nachricht von meiner Ankunft sicher weitergeben würde.
    Nachum hatte mich an diesem Morgen am Hafen leider verpasst. Erst ein paar Tage später gelang es ihm, bis an den Stacheldraht unseres Lagers zu kommen, wo wir zumindest miteinander reden konnten. Bis zum 15. Juli 1946 musste ich zunächst in diesem und dann noch in einem anderen Lager bleiben, dann kamen wir unvermittelt frei und erhielten vorläufige Aufenthaltsgenehmigungen. Ein Bus brachte uns nach Haifa, hielt jedoch an einer anderen Stelle, als uns und unseren Freunden und Verwandten vorher mitgeteilt worden war. Und so lief ich erst ganz allein die Herzlstraße hinunter. Unter dem Arm trug ich nur einen Liegestuhl, den mir Verwandte ins Lager geschickt hatten, weil es dort nicht genug Betten gab. Vor einem Haus blieb ich
stehen und schaute mich ratlos um. Da kamen plötzlich zwei junge Leute auf mich zu. Ich traute meinen Augen kaum: Tatsächlich, das war meine Schwester Hanna! Ich ließ den Liegestuhl fallen und wir flogen einander um den Hals. Vor acht Jahren hatten wir uns zuletzt gesehen. Ihren Begleiter stellte sie mir als ihren jungen Ehemann vor. Und sie berichtete, dass auch Jutta die Flucht nach Palästina gelungen war. Nun war ich wirklich angekommen.
    Â 
    In den nächsten Tagen traf ich Jutta, die mir ausführlich von ihrer Überfahrt in einem viel zu kleinen Boot berichtete. Nachums Familie nahm mich liebevoll auf und im Oktober 1946 wurde meine Tochter Rina geboren. Ich begann zu ahnen, was es heißen kann, glücklich zu sein. Rina, die heute ebenfalls in Deutschland wohnt, und meinem 1957 in Israel geborenen Sohn Benny, der heute mit seiner Familie in England zu Hause ist, möchte ich dieses Buch widmen.
    Dass Mutter und Jossel nicht überlebt hatten, daran wollte ich lange Zeit nicht glauben. Da es kein Grab zum Trauern gab und keine Zeugen ihres Todes, schaffte ich es immer wieder, diese Tatsache zu verdrängen. Erst Jahrzehnte später konnte ich Tränen zulassen über ihren sinnlosen und brutalen Tod irgendwo am Ende ihrer Deportation von Frankfurt nach Minsk im Mai 1942, etwa zu der Zeit, als ich meinen Stempel >bis auf weiteres vom Arbeitseinsatz zurückgestellt‹ in der Créche in Amsterdam erhielt.
    Das alles ist lange her und doch fühlt es sich manchmal an, als sei es gestern gewesen.

    Cilly (21) mit ihrer Tochter Rina Anfang 1947 in Haifa, Palästina.

    Das Internationale Rote Kreuz veröffentlichte 1947, nachdem die Registrierung von jüdischen Überlebenden weitgehend abgeschlossen war, eine Information, nach der die allermeisten jüdischen Kinder und Jugendlichen, die versucht hatten, die Nazizeit in den Niederlanden zu überleben, bis auf wenige Ausnahmen in Konzentrationslagern umgekommen beziehungsweise ermordet worden sind. Kinder und Jugendliche wie die später berühmt gewordene Anne Frank und ihre Schwester Margot, aber auch die unbekannte Lena, meine Freundin aus dem Amsterdamer Mädchenwaisenhaus, die mich so stolz ihrem Vater vorgestellt hatte.
    Zu den ›wenigen Ausnahmen‹ gehören meine Schwester Jutta, ich und meine Freundinnen Suzy und Rosa. Wir hätten nicht überlebt, wenn es nicht Menschen wie Tante Cok und Tante Mies - Cornelia W. Ouweleen und Marie L. Hoefsmit - gegeben hätte. Und jene Familien, bei denen
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