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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort
Autoren: Lutz van Dijk
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lieber auf Nummer Sicher ging.
    Bei uns im Waisenhaus arbeiteten viele christliche Dienstmädchen, oft junge Frauen aus den umliegenden Dörfern, die froh waren, hier Arbeit zu finden. Unser Heimleiter und seine Frau, Onkel Isidor und Tante Rosa, 1 behandelten sie genauso wie die jüdischen Angestellten. Manche hatten zu Weihnachten nicht genug Geld, um nach Hause zu fahren. Dann blieben sie über die Feiertage im Heim und Onkel Isidor begleitete sie am Klavier, wenn sie christliche Weihnachtslieder sangen, damit sie sich nicht so allein fühlen sollten. Eine von den Dienstmädchen mochte ich besonders gern, Lisa. Wir redeten nicht viel, aber schauten einander oft an und dann lächelte sie. Ich wusste nicht viel über
Christen, außer dass sie irgendwie anders waren als wir. Lisa war die erste Christin, die ich näher kennen lernte.
    Einmal war meine schwarze Puppe heruntergefallen und kaputt gegangen. Sogar ihr Kleid war zerrissen. Es war schrecklich. Zu allem Unglück verschwand sie kurz darauf ganz. Ich suchte sie überall. Am Sonntagabend lag sie dann plötzlich wieder auf meinem Bett. Sie war repariert und trug obendrein ein neu gehäkeltes Kleid.
Ich schloss sie überglücklich in die Arme. Auf ein Mal stand Lisa hinter mir und lächelte schüchtern, ohne ein Wort zu sagen. Da wusste ich, dass sie die Puppe mitgenommen und für mich heil gemacht hatte. Am liebsten hätte ich sie umarmt, aber ich traute mich nicht. So lächelte ich zumindest dankbar zurück.

    Chanukka 1935: Die Jungen der Israelitischen Waisenanstalt in Frankfurt am Main entzünden die Kerzen mit Onkel Isidor, dem Heimleiter (links).
    Â 
    Im Waisenhaus waren auch polnische Kinder. Sie kamen meist aus ärmeren Verhältnissen als die deutschen. Viele sprachen nicht gut Deutsch. Manchmal gab es Streit zwischen den deutschen und den polnischen Kindern. Ich war froh, dass ich mich raushalten konnte, denn ich war ja noch immer tschechisch. Aber meine Sympathien waren meist bei den polnischen Kindern. Die waren nicht so eingebildet, fand ich. Oft waren sie frecher, aber auch herzlicher. Und manchmal machte ich eben auch noch einen Fehler in der deutschen Sprache wie sie.
    Im Heim lernten wir jeden Nachmittag mit Tante Ella englische Lieder oder Spiele und lasen englische Bücher, da viele von uns hofften, später einmal nach Palästina auswandern zu können. Als ich meinem Lehrer in der Schule davon erzählte, wies er mich streng zurecht: »Lern du erst mal richtig Deutsch!« Ich war tief beleidigt, weil ich fand, dass mein Deutsch gut genug war.
    Immer öfter sprachen wir davon, wie denn das Leben in Palästina sei und wie unsere Zukunft dort einmal aussehen sollte. Aber wir hörten auch von anderen Plänen. Ich erinnerte mich, wie mein Vater früher, als er noch Geld hatte, Freunden half, nach Amerika auszuwandern. Später war daran für uns selbst nicht mehr
zu denken. Einmal fragte ich meine Mutter: »Warum gehen wir dann nicht zurück in die Tschechoslowakei?« Ich wusste, dass sie noch den grauen tschechischen Pass besaß. Aber sie antwortete nur: »Denkst du, dass man dort auf uns wartet?«
    Zwischendurch vergaß ich diese Gespräche über Weggehen und Auswandern wieder. Im Sommer machten wir oft Ausflüge in den Taunus. Wir nahmen Proviant in kleinen Rucksäcken mit und wanderten in Gruppen unbeschwert durch die Natur, sangen Lieder,
machten Pausen zum Essen oder Spielen und kehrten abends erschöpft, aber glücklich zurück ins Heim. Zuweilen wurde dann ein Lastwagen gemietet, der uns aus der Stadt hinausbrachte. Das Besondere an diesen Ausflügen war, dass Mädchen und Jungen etwas zusammen unternahmen. Die Speditionsfirma, bei der man den Lastwagen bestellen konnte, hieß ›Der rote Radler‹ und so nannten wir auch unser Ausflugsauto.

    Ein Ausflug des Waisenhauses mit dem ›Roten Radler‹ ins Grüne, Sommer 1937. Die drei Schwestern sind mit ihren Zöpfen gut zu erkennen: Cilly (oben links), Hanna (oben Mitte), Jutta (unten rechts), links daneben Jossel (mit Mütze).
    Â 
    Einmal näherten wir uns bei so einem Ausflug einem Lokal in einem kleinen Dorf. Es war schon Nachmittag. Die wenigsten hatten noch etwas zu trinken dabei und so lud uns Tante Ella übermütig zu einem Glas Apfelmost ein. Ausgelassen setzten wir uns an die Tische und Stühle im Vorgarten des Lokals. Tante Ella ging hinein, um zu
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