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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort
Autoren: Lutz van Dijk
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Mutter, die kurz vor der Geburt mit dem kleinen Josef stand, nahm meine beiden Schwestern und mich mit ins jüdische Spital in der Gagernstraße.
    Ich fand, dass es eigenartig roch in diesem Krankenhaus. Und wir Kinder mussten ganz leise sein, weil alle Menschen in Betten lagen und sehr schwach waren. Auch Vater.
    Ein paar Mal brachten wir ihm kandierte Früchte mit, die er sonst immer so gern gegessen hatte. Aber er rührte sie kaum an, sah schrecklich abgemagert aus und sagte kaum etwas. Ich fragte Mutter, wann er denn endlich wieder nach Hause käme, und sie antwortete: »Bald.«
    Â 
    Tatsächlich kehrte er nach Hause zurück, aß kandierte Früchte und bekam wieder etwas Farbe im Gesicht. Nur sein Husten und die Atemnot wollten nicht verschwinden.
    Dann wurde Josef geboren und Vater freute sich mit uns und lachte und hustete immer abwechselnd. Ein paar Wochen später musste er wieder ins Spital. Als ich wissen wollte, welche Krankheit Vater habe, entgegnete meine Mutter nur: »Ich will nicht, dass man darüber spricht!« Und schwieg.

    1931 starb Vater und ließ Mutter mit uns vier Kindern und den Schulden zurück. Hanna kam früher als sonst zu mir in den Kindergarten und sagte ganz leise: »Papa ist tot.« Ich rief erschrocken: »Aber so was darf man nicht sagen!« Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was es bedeutet, dass ein Mensch tot ist - und dann noch mein geliebter Vater. Hanna entgegnete nichts, sondern sah mich nur stumm und traurig an. Und da wusste ich, dass Tod so etwas wie Abschied bedeutet. Dass wir unseren Vater nicht mehr sehen würden. Nie mehr.
    Was sollte nun aus uns werden? Mutter hatte nie einen richtigen Beruf gelernt. Aber sie konnte gut kochen und so tauchte irgendwann eine entfernte Verwandte auf, die ihr eine Stelle als Haushälterin bei dem wohlhabenden Fräulein Oppenheimer vermittelte. Diese Verwandte erlaubte meiner Mutter auch, vorübergehend bei ihr einzuziehen. »Aber nicht mit vier Kindern. Höchstens zwei!«
    Was blieb meiner Mutter übrig? Sie nahm Josef, den Säugling, und die kleine Jutta mit und brachte Hanna und mich in die Israelitische Waisenanstalt am Röderbergweg. Mir fiel vor allem die Trennung von meiner jüngeren Schwester schwer. Ich liebte Jutta sehr und hatte mich von klein auf um sie gekümmert. Dafür hing ich nun plötzlich mit Hanna zusammen, auf die ich oft eifersüchtig war. Hanna war mit einer Hirnblutung geboren worden und wurde deswegen von den Eltern immer mit besonderer Rücksicht behandelt. Und ich fand, dass sie das ganz schön ausnutzte. Wenn wir etwas gemeinsam angestellt hatten, war immer ich diejenige, die
beschuldigt wurde, und Hanna sagte dann nie etwas, sondern schaute nur so leidend. Das fand ich ziemlich gemein.
    Im Waisenhaus nun ließ ich mir nichts mehr gefallen, sondern ärgerte Hanna öfter mit den anderen Kindern. Das war meine Rache. Bei den anderen Kindern war ich beliebter als Hanna. Nachts, wenn es dunkel und kalt im Waisenhaus war und eine von uns Mädchen über den langen Flur zum Klo musste, gingen wir immer mindestens zu zweit, weil wir sonst Angst hatten. Und wenn Hanna dastand, mitten in der Nacht in ihrem dünnen Hemd, und rief: »Wer geht mit mir aufs Klo?«, dann antwortete niemand. Niemand wollte mit ihr aufs Klo gehen. Auch ich nicht.
    Wie sehr vermisste ich dagegen die kleine Jutta! Manchmal besuchte sie Hanna und mich im Waisenhaus, um etwas zum Naschen vorbeizubringen. Sie sagte: »Hier, das ist von meiner Mutter!« Eine Weile kapierte sie gar nicht, dass das auch unsere Mutter war.
    Â 
    Nach zwei Jahren war die Zeit der Trennung endlich vorüber, als Mutter 1934 eine Stelle als Köchin in unserem Waisenhaus bekam. Josef wurde bei den Jungen untergebracht und Jutta kam zu uns Mädchen. Das war ein Fest für mich! Ich stellte sie allen vor und sagte stolz: »Das ist Jutta, meine kleine Schwester. Wehe, der tut jemand etwas!«
    Mutter wohnte anfangs noch nicht bei uns im Waisenhaus. Sie kam morgens zur Arbeit und ging abends wieder weg. Ich hatte sie als ziemlich streng in Erinnerung. Im Waisenhaus war ich sehr selbständig geworden,
obwohl ich noch so klein war. Ich ging in die Volksschule und dort hatte ich ebenso wie im Heim inzwischen Freundinnen gefunden und war mir nun gar nicht so sicher, wie es werden würde, wenn Mutter plötzlich wieder alles kontrollierte.
    Aber Mutter war bald bei
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