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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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Frustration mit sich bringen. Wir »zappen« von einem Wunsch zum nächsten, ohne die Früchte zu ernten, ohne die Lehren daraus zu ziehen. Was wir unseren Kindern in zartem Alter eintrichtern, lehnen wir im Erwachsenenalter ab. Unruhe und Ungeduld sind die Merkmale unserer egozentrischen Gesellschaft. Das gilt nicht bloß für den Wunsch, Besitz anzuhäufen, sondern auch für unsere Art, mit Beziehungen umzugehen. Denn Freundschaft will sorgsam gepflegt sein, ungeachtet aller Verschiedenheit. Es dauert Monate, ja sogar Jahre, eine funktionierende Gemeinschaft aufzubauen.
    Mangelnde Geduld hängt gelegentlich mit altem Leid zusammen. Die Verletzungen, die man im Lauf seines Lebens erlitten hat, können sich in Ärger und Gereiztheit äußern. Auf die Spitze getrieben, kann Ungeduld sogar zu selbstzerstörerischem Verhalten führen.
    Wer behindert ist, wird nicht automatisch geduldig! Geduld will gelernt sein. Philippe Pozzo di Borgo geht davon aus, dass er nur aufgrund seiner Geduld mit seiner Behinderung umgehen kann. Er, der früher nie besonders geduldig war, merkte, dass sie ihm dabei half, sich nicht hinter den Mauern der Behinderung zu verkriechen.
     
Geduld verhilft mir dazu, liebenswürdig zu bleiben, was mir im Endeffekt nur dazu dient, zu überleben und mich in Gesellschaft anderer wohl zu fühlen. Nachdem die Behinderung mein Tempo verlangsamt hatte, wurde mir bewusst, dass wir uns mit unseren hektischen Bemühungen, sofort – also ohne eine Sekunde nachzudenken – auf den geringsten Impuls zu reagieren, auf dem Holzweg befinden. Durch mangelnde Geduld halten wir die Illusion aufrecht, die Zeit und unsere Umgebung im Griff zu haben.
     
    Geduld ist die wichtigste Voraussetzung, wenn es darum geht, für verletzliche Menschen da zu sein und ihnen Raum geben zu können. Umso mehr, als ihr Verhalten manchmal verwirrend ist, besonders wenn die Behinderung mit kognitiven oder psychischen Störungen einhergeht.
    Jean Vanier merkte, dass er sein Tempo drosseln und aufmerksamer sein musste, dass er sich besser darauf konzentrieren musste, da zu sein, damit sich seine Beziehung zu körperlich wie geistig schwerbehinderten Menschen voll entfalten konnte. Bei einem Krankenhausaufenthalt vor einigen Jahren lernte er eine weitere Lektion in Sachen Geduld, da nicht klar war, wie lange er krank bleiben und wie viel Zeit die Genesung beanspruchen würde, und da er außerdem seine Eigenständigkeit eingebüßt hatte.
    Laurent de Cherisey begriff, wie wichtig Geduld ist, als sein Projekt, die Gründung des Vereins Simon de Cyrène, konkrete Formen annahm:
     
Anfangs habe ich mich mit dem gleichen Unternehmergeist, der bis dahin meinen Berufsweg geprägt hatte, in das Abenteuer Simon de Cyrène gestürzt. Ich war davon überzeugt, dass das Projekt in maximal zwei Jahren Gestalt angenommen haben würde … Nach zwei Jahren war dann noch nicht einmal der Grundstein gelegt!
Vor lauter Frust und Ungeduld hätte ich am liebsten alles hingeworfen. Doch dank der Unterstützung einer Gruppe von Menschen, die meine Vision einer humaneren Gesellschaft teilten, in der auch die Schwachen und Verletzlichen einen Platz haben, hielt ich durch. Selbstverständlich ermüdet man am Ende, wenn man alleine kämpft. Wer die Dinge verändern will, muss sich unermüdlich anstrengen, und er muss Geduld aufbringen. Das Gegenteil einer schlaffen Haltung, eines »Wozu das alles?«, die dazu führt, dass man aufgibt. Geduld drückt sich im schwierigen Gleichgewicht zwischen der ursprünglichen Motivation und dem zu einem guten Ende geführten Projekt aus.
     
    Für Jean Vanier beginnt Geduld schlicht dort, wo unsere Situation vollkommen unerträglich geworden ist und wir an unsere Grenzen stoßen.

EINE INNERE REVOLUTION
     
    Nach seinem Unfall wachte Philippe Pozzo di Borgo plötzlich in einem sterilen, weißen und stillen Krankenhauszimmer auf, einem farblosen und, außer dem Ätherduft, geruchlosen Raum. Im Alter von 42 Jahren machte er zum ersten Mal in seinem Leben eine Pause. Zu seiner großen Überraschung entdeckte er die wohltuende Wirkung der Stille.
     
Vorher machte ich Krach. Ich war ununterbrochen in Bewegung. Man glaubt, dass Bewegungen lautlos sind, doch das stimmt nicht. Es ist Lärm. Nie kam ich zur Ruhe. Selbst als meine Frau ernsthaft erkrankt war, rannte ich wie wild herum, um meine Sorge um sie zu vergessen. Erst als ich mich reglos in einem fast immer stillen Raum wiederfand, merkte ich, dass ich mein ganzes Leben einen
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