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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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Aggressivität und Ungerechtigkeit geprägt ist, sondern stattdessen von Solidarität, und in der jeder von uns einen Platz findet.
     
    Die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung ist gesetzlich vorgeschrieben, doch meistens werden diese Bestimmungen als schwierig und unproduktiv empfunden. Der barrierefreie Zugang zum Arbeitsplatz und die Anpassung der Arbeitszeiten an die Bedürfnisse behinderter Menschen werden häufig als eine kostspielige Form von Wohltätigkeit empfunden. Ihre berufliche Kompetenz wird hingegen im Allgemeinen geringgeschätzt.
     
In Deutschland dürfen laut Grundgesetz Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden. Seit 1974 gibt es eine Beschäftigungspflicht für Unternehmen. Firmen mit mehr als 20 Mitarbeitern sind verpflichtet, mindestens 5 Prozent der Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung zu vergeben. Erfüllen die Unternehmen die Quote nicht, müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen. Betriebe, die schwerbehinderte Menschen beschäftigen, erhalten aus den Mitteln der Ausgleichsabgaben Hilfen in Form von Beratung, begleitenden Diensten oder Zuschüssen, etwa beim Lohn oder für die Einrichtung eines weiteren Arbeitsplatzes. Nur 3,9 Prozent der privaten Arbeitgeber erfüllen die Quote.
Die Behindertenrechtskonvention verlangt in Artikel 27 einen »offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt«. Dem jedoch stehen die Vorschriften des Arbeitsförderungsrechts und des Sozialgesetzbuches IX gegenüber, die Menschen mit Behinderung, welche einen besonderen Unterstützungsbedarf haben, auf das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich von Werkstätten für Menschen mit Behinderung verweisen. Die Arbeit in den Werkstätten bildet jedoch keine Alternative zum ersten Arbeitsmarkt, da unter anderem der Lebensunterhalt damit nicht verdient werden kann.
     
    Philippe Pozzo di Borgo, früher Führungskraft in einem großen Unternehmen, ist ganz im Gegenteil überzeugt, dass man Menschen mit Behinderung unbedingt einstellen sollte:
     
Ich kenne beides, das Leben als Unternehmer und das als Behinderter, und bin der festen Überzeugung, dass Menschen mit Behinderung – die laut geltenden Normen als unproduktiv und nicht sehr gewinnbringend angesehen werden – sich in Wirklichkeit in einem Team als ungeheuer wertvoll erweisen können, weil sie für Zusammenhalt sorgen. Unternehmen brauchen Teamgeist, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Die meiste Zeit jedoch werden Kämpfe auf individueller Ebene ausgetragen, weil jeder versucht, die eigene Position auf Kosten der seines Nebenmanns zu stärken. Aus der Behinderung lernt man, oft auf brutale Weise, die Kunst des Anderen , die Notwendigkeit, in der Gruppe zu leben. Wenn man also einem Menschen mit Behinderung die Chance gibt, sich in einem Team einzubringen und die soziale Funktion zurückzugewinnen, die ihm aufgrund seiner Verletzlichkeit genommen wurde, wird er sich auf völlig selbstverständliche Weise für den Zusammenhalt der Gruppe einsetzen. Davon profitieren alle.
     
    Nach vierzig Jahren Erfahrung ist Jean Vanier der Meinung, dass Menschen mit geistiger Behinderung über weniger komplexe, weniger subtile Abwehrmechanismen verfügen. Ihr Schutzwall hat mehr mit ihrem seelischen Leid als mit Ehrgeiz oder Machtgier zu tun. Die Besonderheit verletzlicher Menschen wurde sogar in der Charta der Arche festgehalten:
     
Menschen mit einer geistigen Behinderung haben oft eine besondere Gabe, andere herzlich aufzunehmen, über Dinge zu staunen, spontan und direkt zu sein. Durch ihre Einfachheit und ihr Angewiesensein auf andere können sie die Herzen anderer anrühren und Menschen zusammenbringen. So erinnern sie die Gesellschaft immer wieder an die wesentlichen Werte des Herzens, ohne die Wissen, Können und Macht letztlich keinen Sinn haben. (2, 3)
     
    Wir möchten – über die gesetzlich verankerten Rechte der Menschen mit Behinderung hinaus – von unserer menschlichen Verantwortung sprechen.
    Stützen wir uns dabei nicht auf Theorien, sondern auf die Realität der Behinderung und auf Erfahrungen. Die 24-jährige Axelle wollte neben ihrem Psychologiestudium Erfahrungen in der Praxis sammeln. Sie trat eine Stelle als Helferin beim Verein Simon de Cyrène an, um eine Tätigkeit, die mit ihrem Studium zusammenhängt, mit ihrer Wahrheitssuche zu verbinden.
     
Ich wollte ins echte Leben eintauchen und von Leuten umgeben sein, die ehrlich sagen, was sie denken. Ich brauchte diese
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