Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
Vom Netzwerk:
Adern, Mimi ging mit erhobenem Kopf, und ihre Füße berührten kaum den Boden, sie marschierte mit hochgezogenen Knien. Fortwährend dachte sie sich kleine liebevolle Gespräche mit Ippazio aus, darunter auch nichtssagende häusliche Dialoge, als wäre er schon ihr Bräutigam, ihr großer dunkelhäutiger Ehemann.
    Der Schlafsaal leerte sich, und wenige Menschen blieben zurück, vereinzelte Figuren wie in einer Weihnachtskrippe, die in den Tagen nach Dreikönig allmählich abgebaut wird. Zwei Frauen, ein Kind und ein kleiner Ofen, darüber stieg von ein paar feuchten Kleidungsstücken Dampf auf wie von einem Kohlebecken.
    In einer Atmosphäre von Frieden und Entspannung, deren Stille nur vom Geräusch der draußen laufenden elektrischen Motoren unterbrochen wurde, wanderte Mimi ziellos um den Tisch herum wie ein irres Wesen, ein Nachtfalter, den ein schwacher Lichtstrahl anzieht; dort geschah es, während sie, ihren fröhlichsten und geheimsten Gedanken hingegeben, zum hundertsten Mal an diesem Morgen mit einem Lappen über den zackigen Rand des Tisches aus Kunststoff fuhr, dass sie Rosanna auf sich zukommen sah. Gewaltig, aber schnell wie ein Wind, der aus den Spalten kommt, und schwer wie ein Sturz kam der Schlag, eine Ohrfeige mit dem Handrücken und dann die nächste mit der noch kühlen Seite, zwei furchtbare Schläge, einer von oben nach unten, der andere von unten nach oben, wie um die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Rosanna sagte nichts und kehrte zu einem mit Stoff bespannten Stuhl zurück, wo sie ihre Stickarbeit wieder aufnahm, als wäre nichts geschehen.
    Das Gesicht brannte noch, aber nicht wegen der Ohrfeigen, die harte Hand hatte eine andere Art von Mal in Mimis Innerem hinterlassen, denn sie erkannte das Muster einer unerträglichen Ungerechtigkeit, etwas, was ihr bis zu diesem Moment unmöglich erschienen war. Sie hatte immer gedacht, dass niemand auf der Welt imstande sei, etwas wirklich Böses zu tun, dass es hinter jeder Tat immer etwas gab, was gerettet werden konnte und den Menschen rettete. Diese Gewissheit war verschwunden, und Mimi hatte diese Offenbarung von dem sanftmütigsten Wesen empfangen, das sie bis jetzt gekannt hatte, ihrer Mutter, der Frau, an die geschmiegt sie einen ganzen Winter lang glücklich geschlafen hatte, einen unbekannten, strengen Winter lang, den schwierigsten Winter ihres Lebens. Wusste Mama Rosanna das womöglich, hatte sie verstanden, dass Mimi glücklich war, und sie für ihr Glück bestraft?
    Der Abend verging ohne einen Gedanken an Ippazio und damit, das Weinen in der Kehle zurückzuhalten.

Solche Auftritte hatte Governo oft: Um das Territorium zu markieren, gerade so wie ein Tier, das seinen Lebensraum schützt, zog er eine Grenze. Nicht überschreiten, ab hier Gefahrenzone. Die Arbeit hier oben war nichts anderes als ein Krieg, und er kommandierte die Etappe. Erbarmen mit dem, der gelegentlich bis zu seinem Zufluchtsort gelangte, aber aufgepasst, dass man ihm nicht auf die Füße trat.
    Seit zwei Tagen schleppte Antonio Orlando keine Säcke mehr, ein Vorarbeiter der Abteilung hatte Governo auf den Ausfall aufmerksam gemacht.
    Wenn sie sich am Ende des Tages die Arbeitskleidung auszogen, herrschte Stille im Umkleideraum. Die Erschöpfung nahm ihnen alle Lust zum Plaudern. Governo war der Einzige, der das Schweigen durchbrach; und wenn er sprach, wurde die Stille sogar noch größer, falls das möglich war, denn was er zu sagen hatte, interessierte alle. Von ihm konnte man erfahren, was die Schweizer von den Italienern dachten und ob die Vorgesetzten mit der Arbeit zufrieden waren.
    Alle vom Salento waren versammelt, Ippazio und der Vope standen aufrecht vor Governo. Antonio Orlando saß, mit gesenktem Kopf.
    »Antonio, man hat mir gesagt, dass du deine Arbeit nicht machst.«
    »Das stimmt nicht.«
    »Ist das alles, was du mir zu sagen hast? Die Säcke sind noch immer da, wo sie gestern waren.«
    »Ist nicht wahr, dass ich sie nicht mehr schleppe. Ich schleppe nur ein paar weniger.«
    »Dann sagen sie wieder, dass wir Italiener …«
    »Aber ich bin krank, Governo, siehst du nicht, dass ich huste? Seit zehn Tagen hört diese Scheißgrippe nicht auf.«
    »Antonio, nicht dieser Ton, schrei hier nicht rum und such dir jemanden, der dir hilft, die Säcke zu schleppen, sonst werfen wir dich raus.«
    Antonio hob den Kopf und riss die Augen auf, er hatte Governos Drohung nicht verstanden.
    »Wir werfen dich erst aus dem Haus und dann aus der Fabrik, du weißt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher