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Zeitschaft: Meisterwerke der SF (German Edition)

Zeitschaft: Meisterwerke der SF (German Edition)

Titel: Zeitschaft: Meisterwerke der SF (German Edition)
Autoren: Gregory Benford
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der Mainstream-Literatur, wo Schriftsteller wie Jorge Luis Borges und Stanisław Lem »absichtlich einen bestimmten Aspekt der Welt, über die Übereinkunft besteht, akzentuieren und so eine Art Superrealismus erzielen, der sowohl erkennbar als auch bizarr wirkt«. In den Schriften von Borges findet er die Erkenntnis, dass »die grundlegenden Ansichten, die unserer gemeinsam akzeptierten Wirklichkeit zugrunde liegen, selbst sonderbar, frappierend, sogar unmenschlich sind, wenn man sie im vollen grellen Licht der literarischen Phantasie betrachtet.« Er betrachtet den Irrealismus als literarisches Gegenstück zum Gedankenexperiment der Physiktheoretiker, als Erkundung dessen, »was wäre oder sein sollte oder könnte«, indem man die Welt »im Zerrspiegel der Möglichkeiten« untersucht, und er äußert sich zum Verhältnis zwischen dieser Art Literatur und der Science Fiction.
    Gegen Ende von »Zeitschaft« haben sich Wissenschaft und Irrealismus dergestalt verwoben, dass der Unterschied zwischen objektiver, wissenschaftlicher Realität und subjektiver »Irrealität« praktisch ausgelöscht wird. Die Theorie, dass ein Zeitparadox von hinreichender Größenordnung eine Aufspaltung in Alternativuniversen auslöst, ist auf methodische, analytische, wissenschaftliche Art entwickelt worden. Doch wir bekommen auch die menschliche Erfahrung jener Verschiebung in Begriffen vertrauter, subjektiver, menschlicher Illusionen zu sehen. Nachdem John Renfrew zwei Tage allein in seinem Labor zugebracht hat, in zunehmendem Maße krank von den biochemischen Veränderungen in seiner Umwelt und in einer Welt schwebend, »in der t die Zeit war, Tee eine salzige Brühe und x für den Raum stand«, sucht er krampfhaft nach einer Erklärung für seine absonderliche Wahrnehmung (Kapitel 45): »Vielleicht erklärte der Gewichtsverlust, warum sich der Raum vor seinen Augen kräuselte und ausdehnte. Herrgott, war er müde.« An diesem Punkt kommt Renfrew, der sich hingebungsvoll in seine Aufgabe verbissen hat, phantasielos und durch nichts als seine Entschlossenheit getragen, zu dem Schluss, dass die ganze Übung »öde und langweilig« sei, und beginnt persönliche Kommentare in gewöhnlichen Sätzen zu senden, den früheren Sendungen ganz unähnlich. Er ist, könnte man sagen, »ein anderer Mensch« geworden. Für seine Taten gibt es vollauf akzeptable psychologische Gründe, und das Kräuseln des Zimmers könnte eine Illusion sein. Doch wir sind auf die Möglichkeit einer objektiven Manifestation des Zeitparadoxes eingestimmt worden, ein Anzeichen für die Aufspaltung des Universums. Hier ist die objektive Realität nicht mehr von der psychologischen zu unterscheiden.
    Der Schluss des Romans lässt uns immer noch außerstande, Illusion und Wirklichkeit zu unterscheiden, nachdem wir erst einmal die Idee akzeptiert haben, dass Zeitparadoxa die Realität wiederholt ohne Vorwarnung ändern. Der Sprung von Penny zu Marsha wird ohne Alternativuniversen erklärt, aber die verwirrende Möglichkeit bleibt uns trotzdem vor Augen. In der Menge, die zusieht, wie Gordons Arbeit über Tachyonen ausgezeichnet wird, erblickt Gordon seine Mutter (Kapitel 46): Sie »saß in der dritten Reihe. Sie trug ein dunkles Kostüm und war gekommen, ihren Sohn auf der hellen Bühne der Geschichte zu sehen, seinen Tag mitzuerleben.« Zuletzt wurde seine Mutter zwei Kapitel und elf Jahre früher erwähnt. Zwischen ihnen lag ein Kontinent, und der Konflikt um Penny hatte sie einander entfremdet; sie war krank, und der Druck seiner wissenschaftlichen Arbeit hinderte ihn daran, sie zu besuchen. Jetzt ist er von ihrer Anwesenheit begeistert – hat also die Entfremdung all die Jahre angedauert? Aber nein, »sie war im hektischen Chaos, das dem November 1963 folgte, im Bellevue gestorben, bevor er sie noch einmal besuchen konnte … Die Frau in der dritten Reihe war wahrscheinlich eine alternde Sekretärin, der jemand mit der Einladung einen Gefallen getan hatte. Und trotzdem, etwas in ihrem wachen Blick … Der Raum wogte, Lichtpunkte verschwammen zu Flecken.« In den wenigen verbleibenden Absätzen des Romans wird die Anwesenheit seiner Mutter weder erklärt noch wegerklärt. Ist sie in einem weiteren Alternativuniversum real? Ist sie eine Illusion, seinem Wunschdenken entsprungen?
    Als Kontrapunkt gegen Gordons Gedanken an seine Mutter steht die Rede des Präsidenten über die Bedeutung von Gordons Arbeit, über »ein ungeheures … Spektrum, das die enger werdende
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