ZEITLOS - Band 3 (German Edition)
Augen blickten, hielten die Erwachsenen inne, um sich die Begrüßung der Kinder, die sich ja gar nicht kannten, nicht entgehen zu lassen.
Rico drückte beide Hände auf sein Herz und verbeugte sich mit großer Würde vor Lara. Die tat es ihm gleich, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Dann hoben sie die Hände und legten die Handflächen sekundenlang aneinander, drehten sich um und gingen ums Haus herum in den Garten. Nicht wie Kinder es tun, rennend und hüpfend, sondern in einer Weise, die den Erwachsenen unwillkürlich das Blut in den Adern gerinnen ließ.
Wüssten sie es nicht besser, könnte man meinen, zwei alte Menschen, die sich seit ihrer Jugend nicht gesehen haben, kämen zusammen, um endlich über all das Unausgesprochene während der Zeit ihrer Trennung zu reden. Und das, obwohl sie keine gemeinsame Sprache hatten. Rico sprach kein Deutsch und Lara kein Italienisch…
21. Juni 2027; Dienstag; 11:40 Uhr; Ortszeit Peru; 5. Welt; Nähe Cusco; Schutzfeste Sacsayhuaman
Der Mann, der im Schatten einer der zerfallenen Mauern von Sacsayhuaman den Feierlichkeiten des diesjährigen Inti Raymi beiwohnte, unterschied sich in Aussehen, Statur und Kleidung kaum von den Leuten, die ihn umgaben. Sie kamen aus Chiapas, einem Gebiet im Südosten Mexikos. Man musste schon sehr genau hinsehen, um zu bemerken, dass der Mann ein Nordeuropäer war.
Zum heutigen Festtag hatte die Gruppe die traditionelle Kleidung aus fein gesponnener weißer Pima-Baumwolle angelegt. Sie ließ die Männer und Frauen vom Stamm der Lacandon-Maya im Licht der Sinta-Sonne changierend leuchten.
Man spürte, dass sie mehr als nur Beobachter dieses Spektakels waren. Die Besucher wohnten der traditionellen Feier zu Ehren des Schöpfergottes Viracocha und dessen Sohnes, dem Sonnengott Inti, bei. Dieses einst höchste Fest der Inkas wurde nach über dreihundertjähriger Pause aufgrund entsprechender Verbote durch die ehemaligen Conquistadores und der späteren Kirchen, seit 1942 endlich wieder nach alter Inka-Tradition begangen und zelebriert.
Jetzt fand die Zeremonie jedoch nicht mehr wie früher üblich auf dem Hauptplatz in Cusco statt, sondern in den Anlagen der früheren Schutzfeste Sacsayhuaman, die oberhalb der Stadt an einem Berghang lag. Praktischerweise verband man mit dieser Feier gleichzeitig das hiesige Erntedankfest, das nun, seit der Transformation, wieder am Tag der Wintersonnenwende alljährlich in Peru stattfand.
Der einheimische Name der Stadt, Cusco, bedeutet aus der alten Landesprache Quechua übersetzt: Nabel der Welt . Diese besondere Bedeutung fand im Kreuz der Anden seinen Niederschlag. In dem allgegenwärtigen Inkasymbol standen die Balken für die vier Himmelsrichtungen, die gestuften Absätze dazwischen für die drei Daseinsebenen Himmel, Erde und Unterwelt.
Zugleich symbolisierten die Abstufungen das gesamte gesellschaftliche Beziehungsgeflecht, wie Wissen, Liebe und Arbeit, Nehmen und Geben. Das zentrale Loch im Andenkreuz stellte den Nabel der Welt, die Stadt Cusco, dar.
Während Plätschner Tanzvorführungen beobachtete, gingen ihm wiederholt Bilder der vorangegangenen Zeremonien durch den Kopf, denen er zwecks Unterrichtung und Bewusstseinserweiterung beiwohnen durfte. Er hatte auf Drängen Brayasils vor einem Jahr mit seiner spirituellen Wanderung begonnen, die ihn zu den unterschiedlichsten Stämmen führte.
Ausgestattet mit einer persönlichen Empfehlung und detaillierten Informationen, verschafften ihm die Dokumente Aufnahme in verschiedenste schamanische Zirkel und somit Zugang zu Geheimnissen, die er sich nie hätte träumen lassen.
Vieles hatte er unter Brayasils strenger Führung bereits gelernt. Nun sollte die auf mehrere Jahre angelegte Wanderung zu anderen Meistern, schamanischen Oberhäuptern und Eldermännern, seine Ausbildung vervollkommnen.
Schon oft hatte er sich gefragt, weshalb Brayasil ihm diese besondere Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbrachte. Dass dies ein völlig ungewöhnlicher Vorgang sein musste, war ihm von Anbeginn klar, und es blieb ihm lange Zeit ein ungelöstes Rätsel, warum ihm, als ehemaligem Wissenschaftsjournalisten und somit modernem Vertreter eines völlig anderen Kulturkreises, diese Ehre zuteil wurde. Nur ein einziges Mal hatte Brayasil erwähnt, dass er ihn für einen nach alter Überlieferung angekündigten Auserwählten hielt, von dem das Schicksal der Welt abhing.
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