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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere
Autoren: Liza Klaussmann
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die Bluse vom Leib. In ihrem Kopf pochte es. Sie zog den Rock aus, beugte sich, nur mehr in Büstenhalter und Slip, über das kleine Waschbecken und bespritzte Brüste und Hals mit Wasser. Dann knipste sie die Deckenleuchte aus und zog das Fenster nach unten, um frische Luft hereinzulassen. Der Schaffner hatte das Bett heruntergeklappt, während sie im Salonwagen war. Sie setzte sich darauf und zündete eine Zigarette an. Als die zu Ende geraucht war, zündete sie noch eine an und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Die Dunkelheit zog vorbei. Nach einer Weile legte sie sich hin, vom Geruch des Rauchs umhüllt.
    Um fünf Uhr morgens fuhren sie in den Bahnhof von Richmond ein. Der Lärm der ein- und aussteigenden Leute hatte Nick geweckt. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und das Fenster stand noch immer offen.
    »Verdammt.« Ganz langsam und vorsichtig richtete sie sich im Bett auf. Sie war noch immer in Büstenhalter und Slip und konnte von allen zusteigenden Fahrgästen gesehen werden. Weil sie den weiter entfernten Vorhang nicht erreichen konnte, zupfte sie nur an dem, der näher war, und stellte sich dahinter. Vom grünen Filz bedeckt, lugte sie hinaus und glaubte, das Ufer des James River zu erkennen. Hier im Süden war die Luft sanfter, nicht wie in Tiger House, wo das Meer sie aufpeitschte. Und der Duft der Kiefern räumte mit den letzten Spuren des Martinis auf. Sie zog den anderen Vorhang vor, schlang sich den Gürtel ihres Morgenmantels um die Taille, öffnete die Tür und rief dem Schaffner zu, er solle ihr Kaffee bringen.
    Um elf Uhr nachts würde sie in St. Augustine sein. Und bei Hughes. Hatte sie von ihm geträumt? Sie versuchte sich zu erinnern. Der Schaffner kam mit dem dampfenden Kaffee. Während sie daran nippte, beobachtete sie die schlaftrunkenen Menschen, die den Zug bestiegen, um nach Florida zu fahren. Bald würde Helena in Hollywood eintreffen. Nick fragte sich, wie das Haus von Avery Lewis wohl aussah. Die arme Helena. Schon nach den ersten Kämpfen hatte man ihr mitgeteilt, dass Fen tot war. Gerade mal zwei Monate hatte er gebraucht, um zu heiraten und sich töten zu lassen. Wer wusste schon, wie das Leben der beiden verlaufen wäre, wenn er überlebt hätte. Beide waren Kinder gewesen, und beide hatten kein Geld gehabt.
    Auch Helenas Mutter, Tante Francis, hatte keine gute Partie gemacht, doch es hatte sie offenbar nie gestört, mit weniger auskommen zu müssen. Nick hatte sie nie darüber klagen hören, dass ihre ältere Schwester Tiger House geerbt und einen Mann geheiratet hatte, der Unmengen von Geld mit Spulen und Rollen verdiente, während sie buchstäblich nichts besaß. Es war Nick nie in den Sinn gekommen, dass Tante Francis sich manches anders gewünscht hätte. Doch wenn sie jetzt darüber nachdachte, wie merkwürdig schnell Helena wieder heiraten wollte, wie sehr sie etwas Eigenes brauchte, wie sie es ausdrückte, dann fragte sich Nick, ob Tante Francis nicht doch manchmal den Wunsch verspürt hatte, diejenige mit dem großen Haus zu sein.
    Aber vielleicht war das alles gar nicht wichtig. Schließlich konnte sich Nick an keinen einzigen Sommer erinnern, in dem ihre Mutter und Tante Francis nicht ständig aufeinanderhockten. Selbst nach dem Tod von Helenas Vater, als die Große Depression kam. Und selbst nach dem Tod ihres eigenen Vaters, als es ihrer Mutter so schlecht ging. Nick zwang sich dazu, ihre Grübeleien abzubrechen. Über das alles wollte sie jetzt nicht nachdenken.
    Sie nahm zwei Eier aus der braunen Papiertüte, zerbrach die Schalen auf dem Fensterbrett und brachte die glänzende weiße Haut zum Vorschein. Nein, jetzt war alles neu, wartete auf Entdeckung. Und sie würde es entdecken. Hughes und sie würden es zusammen entdecken. Sie gierte danach. Sie würde sich die ganze Welt in den Mund stopfen und draufloskauen.

Dezember 1945
    A ls Hughes in seinem alten Buick vorfuhr, lag Nick draußen auf dem Schwimmsteg. Um den stotternden Motor und den Knall der Fliegengittertür nicht hören zu müssen, versuchte sie sich auf die Musik zu konzentrieren, die von der Veranda am anderen Ende des Gartens herüberklang.
    Count Basies Klavier. Das abgenutzte Holz des Schwimmstegs hinterließ winzige Splitter im Rückenteil des gelben Badeanzugs. Nicks großer Zeh glitt durch die Oberfläche des Kanalwassers. Sie wartete.
    Als Hughes nicht rauskam, war sie erleichtert. Sie hörte die Dusche im Haus; Hughes wusch sich den Staub und die Farbe von den Arbeiten an der
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