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Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Titel: Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Autoren: Lee Child
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der Wand bemerkte. Er war unrasiert und hatte ein zerknittertes Khakihemd voller eingetrockneter grüner Farbflecken an. Sie trug ein neues Kleid, das gut und gern tausend Dollar gekostet haben dürfte. Mit ihr wandten sich hundert weitere Gäste zu ihm um, und mit einem Mal wurde es still. Sie zögerte einen Moment, als müsste sie eine Entscheidung treffen, dann kämpfte sie sich durch das Gedränge und schlang ihm samt Champagnerglas die Arme um den Hals.
    »Die Partnerschaftsparty«, sagte er. »Du hast es geschafft.«
    »Ganz recht«, bestätigte sie.
    »Tja, herzlichen Glückwunsch, mein Schatz«, sagte er. »Tut mir Leid, dass ich zu spät komme.«
    Sie zog ihn mit sich, und sofort wurden sie von Menschen umringt. Er schüttelte gut hundert Anwälten die Hand, als wären es Generäle feindlicher Armeen. Legt euch nicht mit mir an, dann lege ich mich nicht mit euch an. Der oberste Boss war ein etwa fünfundsechzig Jahre alter Mann mit rötlichgrauem Gesicht, der Sohn eines Gründungsmitglieds der Kanzlei, dessen Name auf einer Messingtafel in der Rezeption stand. Sein Anzug hatte vermutlich mehr gekostet als sämtliche Kleidungsstücke, die Reacher in seinem ganzen Leben besessen hatte. Doch der alte Knabe war in Partystimmung, gut gelaunt und bester Dinge, ohne sich an Reachers Aussehen zu stoßen. Vermutlich wäre er auch begeistert gewesen, wenn er Jodies Fahrstuhlführer die Hand hätte schütteln können.
    »Sie ist unser großer Star«, lobte er sie. »Ich bin hocherfreut, dass sie unser Angebot angenommen hat.«
    »Die schlaueste Anwältin, die ich je kennen gelernt habe«, erwiderte Reacher über den Lärm hinweg.
    »Werden Sie mit ihr gehen?«
    »Wohin?«
    »Nach London«, antwortete der alte Knabe. »Hat sie es Ihnen nicht gesagt? Ein neuer Partner muss zunächst zwei Jahre nach Europa und unsere dortige Niederlassung leiten.«
    Sie führte ihn aus dem Gedränge zu der verglasten Außenwand, wo man zwischen zwei hohen Gebäuden hindurch freie Sicht auf den Hafen hatte.
    »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und bei der hiesigen FBI-Dienststelle angerufen«, sagte sie. »Offiziell bin ich ja nach wie vor deine Anwältin. Ich habe mit jemandem aus Alan Deerfields Büro gesprochen.«
    »Wann?«
    »Vor zwei Stunden. Man wollte mir aber nichts sagen.«
    »Da gibt’s auch nichts zu sagen. Sie haben sich mit mir geeinigt und ich mich mit ihnen.«
    Sie nickte. »Dann hast du also doch etwas gebracht.«
    Sie zögerte einen Moment.
    »Wirst du als Zeuge vorgeladen?«, fragte sie. »Kommt es zu einem Prozess?«
    Er schüttelte den Kopf. »Kein Prozess.«
    Sie nickte. »Nur eine Beerdigung, nicht?«
    Er zuckte die Achseln. »Es sind keine Angehörigen mehr übrig. Das hat den Ausschlag gegeben.«
    Sie zögerte wieder, als ob sie sich mit einer wichtigen Frage beschäftigte.
    »Wie stehst du jetzt dazu?«, fragte sie. »Antworte mir mit einem Wort.«
    »Ruhig«, erwiderte er.
    »Würdest du es wieder tun? Unter den gleichen Umständen?«
    »Unter den gleichen Umständen?«, fragte er. »Auf der Stelle.«
    »Ich muss dienstlich nach London«, sagte sie. »Zwei Jahre.«
    »Ich weiß«, erwiderte er. »Der alte Knabe hat es mir erzählt. Wann reist du ab?«
    »Ende des Monats.«
    »Du willst nicht, dass ich mitkomme«, sagte er.
    »Ich werde viel zu tun haben. Es gibt dort nur wenig Personal, aber jede Menge Arbeit.«
    »Und es ist eine schicke Stadt.«
    Sie nickte. »Ja, ganz recht. Möchtest du mitkommen?«
    »Für zwei Jahre?«, sagte er. »Nein. Aber vielleicht könnte ich dich von Zeit zu Zeit besuchen.«
    Sie lächelte gedankenverloren. »Das wäre schön.«
    Er schwieg.
    »Es ist einfach furchtbar«, sagte sie. »Fünfzehn Jahre lang konnte ich nicht ohne dich leben, und jetzt stelle ich fest, dass ich nicht mit dir leben kann.«
    »Ich weiß«, sagte er. »Ist alles meine Schuld.«
    »Geht es dir genauso?«
    Er sah sie an.
    »Ich glaube schon«, log er.
    »Wir haben ja noch bis Ende des Monats Zeit«, meinte sie.
    Er nickte.
    »Mehr als die meisten Menschen. Kannst du dir den Nachmittag freinehmen?«
    »Selbstverständlich. Ich bin jetzt Partner. Ich kann tun und lassen, was ich will.«
    »Dann nichts wie weg.«
    Sie ließen ihre leeren Gläser am Fenstersims stehen und bahnten sich einen Weg zwischen den Menschen hindurch. Alle schauten ihnen nach, als sie den Raum verließen.

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Visitor« bei Bantam Press,
Transworld Publishers, The Random House
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