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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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an. Dieselbe Größe und dasselbe Kaliber wie die Hülse, die er in London gefunden hatte. Und diesmal bestand kein Zweifel - sie waren an einem Ort zurückgelassen worden, wo nur er allein sie finden würde.
    Um den Metallrand einer der Hülsen zog sich ein Muster, und er drehte sie, um es im bleichen Licht des Winternachmittags genauer zu betrachten.
    Ein seltsames Muster - zierliche Mohnblumen, die sich stufenförmig um die Messinghülse wanden, doch wo die Stempel hätten sein sollen, waren winzige Schädel mit hohlen Augen, die starr zu ihm aufblickten.
    Totenschädel.
    Hamish sagte: »Eine Warnung.«
    Derselbe Gedanke war auch ihm durch den Kopf geschossen. »Aber warum nur auf einer von ihnen?«, fragte Rutledge neugierig, während er immer noch die kunstvolle Ausführung dieser Verzierungen betrachtete.
    »Kann doch sein, dass er glaubt, du wüsstest selbst, warum.« Nach einem Moment fügte Hamish hinzu: »In einer der Kompanien
an der Front gab es einen gemeinen Soldaten. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber sein Sergeant hat eine seiner Patronen mit einem eingeritzten Totenschädel gefunden und beim nächsten Sturmangriff hat der Sergeant eine tödliche Kugel in den Rücken gekriegt.«
    Rutledge hatte die Patronenhülse, die er vor Maryanne Brownings Haus gefunden hatte, nie genauer untersucht. Warum sie vor ihrer Tür lag, hatte ihn weitaus mehr interessiert als das, was in sie eingeritzt worden war. Soweit er wusste, befand sie sich immer noch in der Tasche seines Fracks.
    Er sah sich auf der Landzunge um und schmeckte das Salz auf seinen Lippen, als der Wind drehte und vom Meer her blies. Hier draußen war niemand außer ihm. Überhaupt niemand.
    Und doch hatten die Patronenhülsen nicht auf dem Sitz gelegen, als er den Wagen abgestellt hatte, um zum Rande der Klippe zu laufen. Das stand mit Sicherheit fest.
    Wenn ihm jemand aus dem Dorf hierhergefolgt war - wo hielt sich derjenige jetzt auf? Lag er irgendwo flach auf dem Bauch im kümmerlichen Gras oder war er längst auf seinem Fahrrad verschwunden?
    Rutledge drehte sich langsam im Kreis und suchte mit den Augen die Landschaft noch einmal ab.
    Die Leere um ihn herum schien von etwas Böswilligem erfüllt zu sein.
    Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, beobachtet zu werden. Aber nicht einmal eine Möwe war am Himmel zu sehen.
    In London hatte sich auch niemand auf dem Platz aufgehalten.
    Nach einem Moment warf Rutledge die Hülsen auf den Beifahrersitz und legte einen Gang ein. Auf dem Weg nach London sagte er sich immer wieder, es könnte zwar jemand gewusst haben, dass er die Party der Brownings besuchen würde - Sergeant Gibson hatte ihn schließlich auch dort ausfindig gemacht -, aber niemand hätte ahnen können, dass er an einem kalten, windigen Spätnachmittag im Januar zu dieser
gottverlassenen Landspitze hinausfahren würde. Er hatte selbst nicht damit gerechnet, dass er diesen Abstecher machen würde. Er war einer spontanen Eingebung gefolgt, einer Laune, die dem Bedürfnis nach Stille und Frieden entsprungen war. Jemand hätte sich darauf verstehen müssen, Gedanken zu lesen …
    Er war so gut wie sicher, dass es für niemanden einen Grund gab, ihm aus dem Dorf zu folgen, in dem die Geiseln festgehalten worden waren. Es war weitaus wahrscheinlicher, dass jemand ihm von London aus gefolgt war.
    Aber warum?

4.
    Als er nach Hause kam, senkte Rutledge auf den Stufen vor der Tür unwillkürlich den Blick. Dort lag nichts. Er trat ein, stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf und schaltete das Licht an, bevor er nach der anderen Patronenhülse sah, die er am Silvesterabend gefunden hatte. Sie steckte noch in der Tasche seines Fracks, und er musterte sie eingehend im hellen Schein der Lampe.
    Klatschmohn. Ganze Reihen von Mohnblumen, die sich anmutig um die Hülse zogen. Die Blütenblätter waren in all ihrer Schönheit in die Messinglegierung geritzt. Aber zwischen den Blättern und den Stängeln konnte er bei genauerer Betrachtung mit Mühe etwas erkennen, das sich dort verbarg. War es ein Auge, das herauslugte? Oder war die Hand des Graveurs ausgerutscht? Schwer zu sagen. Er hätte sich nichts dabei gedacht, wenn er das neueste Exemplar noch nicht gesehen hätte, doch dieses rückte die bewusst vage gehaltene Augenhöhle in ein unheimlicheres Licht.
    »Von demselben Künstler«, hob Hamish hervor, und tatsächlich erbrachte die Kunstfertigkeit der Darstellung den Beweis dafür.
    Rutledge fragte sich voller Unbehagen, was passiert
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