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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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Nummer 18 hinaufstieg. Sie blickte zu ihm auf und stellte wieder einmal fest, wie gut er in seinem Abendanzug aussah. Sein dunkles Haar
und seine dunklen Augen bildeten einen auffälligen Kontrast zu der schimmernden weißen Hemdbrust. Ein Jammer, dass sie ihn nicht überreden konnte, sich öfter in Schale zu werfen - seit dem Krieg lebte er sehr zurückgezogen. Warf Jean, seine frühere Verlobte, immer noch ihren Schatten über ihn? Sie wollte nicht glauben, dass es Frankreich war. Oder die hartnäckige Schützengrabenneurose … Er weigerte sich, über sich selbst zu reden, ganz gleich, wie sehr sie ihm damit zusetzte. Und Dr. Fleming war ebenso verschlossen wie ihr Bruder. »Maryanne hat etwas von einer unterhaltsamen Darbietung gesagt - wahrscheinlich ein neuer Sopran …« Ihre Augen funkelten schelmisch, als sie auf seine Reaktion wartete.
    »Gütiger Himmel! Das war bei den Porters, kurz vor dem Krieg. Es war eine Österreicherin, und sie hat die Kronleuchter zum Beben gebracht.«
    »Also, das ist eine glatte Lüge, Ian! Sie war Italienerin!« Frances lachte. »Sie hat darauf bestanden, dass du sie zu Tisch führst, und dann hat sie sich für den Rest des Abends vergeblich bemüht, dich zu überreden, dass du sie in Venedig besuchst!« Sie hob den Türklopfer und fügte dann hinzu: »Jean war furchtbar eingeschnappt. Sie musste sich zwangsläufig mit diesem Colonel abgeben, dem mit der …«
    Die Tür ging auf und Maryanne Browning begrüßte Frances herzlich mit offenen Armen. »Hallo, meine Liebe, ich bin ja so froh, dass du kommen konntest! Und du, Ian, hast dich hier schon viel zu lange nicht mehr blicken lassen. Gebt Iris eure Mäntel und kommt in den Salon.«
    Sie nahm die beiden mit sich, stellte sie den anderen Gästen vor, versorgte sie mit Getränken und setzte sich, um ein Gespräch über Kanada wieder aufzunehmen, das durch das Eintreffen des Geschwisterpaares unterbrochen worden war.
    Rutledge kannte die meisten Anwesenden. Simon, Maryannes Bruder, Pfarrer einer ländlichen Gemeinde in Sussex. Dr. Philip Gavin, ein Chirurg, der seine Praxis in der Harley Street
hatte, und seine Ehefrau, die schon seit Jahren mit Maryanne befreundet war. Die Talbots, George und Sally, ein jüngeres Paar; der Mann hatte im Krieg einen Arm verloren. Rutledge hatte die beiden auf einer der Partys seiner Schwester kennengelernt. Ihm gegenüber saßen Commander Farnum, ein Marineoffizier, und seine Frau Becky, die nur ein paar Häuser weit von Frances in derselben Straße wohnten. Bei dem letzten Gast handelte es sich um eine dunkelhaarige Frau, die durch ihr unglaublich sicheres Auftreten auffiel. Ihr Blick war auf ihn gerichtet, als könnte sie seine Gedanken lesen. Sie hieß Mrs. Channing und war ihm bisher noch nie begegnet, doch sie sah ihn so durchdringend an, dass es ihm Unbehagen einflößte.
    Peter Browning, Maryannes Ehemann, war 1918 während der Grippeepidemie gestorben. Er war Beamter im Kriegsministerium gewesen und hatte um sieben Uhr morgens, als er seiner Frau zum Abschied einen Kuss gab, noch einen gesunden und munteren Eindruck erweckt. Um drei Uhr nachmittags war er an seinem Schreibtisch tot umgefallen, urplötzlich von der heftigen Infektion dahingerafft. Seine Fotografie stand in einem silbernen Rahmen auf dem Kaminsims, ein Mann mit schmalem Gesicht und freundlichen Augen. Rutledge hatte ihn sehr gemocht.
    Der Abend verging mit angeregten Gesprächen, und Rutledge stellte fest, dass er sich entspannte und die Stimme in seinem Kopf vorübergehend schwieg, denn die Gesellschaft war interessant genug, um seine Aufmerksamkeit von seinen eigenen Gedanken abzulenken. Die waren ziemlich trostlos gewesen, denn ihm gingen immer noch Zeilen aus den Briefen durch den Kopf, die auf seinem Schreibtisch lagen. Er war froh, ihnen entkommen zu können, und sei es auch nur für ein oder zwei Stunden.
    Mrs. Channing, die ihm schräg gegenübersaß, unternahm keinerlei Anstrengung, um die anderen Gäste zu bezaubern, und doch schien sie in den Mittelpunkt zu rücken. Ihre Stimme
erhob sich nie über die der anderen, aber oft löste sie mit einer gut platzierten Bemerkung im rechten Moment Gelächter aus.
    Er fragte sich unwillkürlich, wie alt sie wohl sein mochte, und entschied, sie sei ihm altersmäßig näher als Frances. Vielleicht war sie aber auch jünger als beide. Das war schwer zu sagen, da sie kaum von sich selbst oder ihrem verstorbenen Mann sprach. Es schien, als sei sie zu introvertiert, um Fremden
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