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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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ihre Erfahrungen aufzudrängen. Es gab keine Anhaltspunkte …
    Eine attraktive Frau, so viel ließ sich mit Sicherheit sagen, mit hohen Wangenknochen, die Frances bestimmt längst positiv aufgefallen waren, und dunklem Haar, das vom weichen Licht der Wandlampe hinter ihr in einen goldenen Schimmer getaucht wurde. Ihr außergewöhnlich sicheres Auftreten war faszinierend, ihr Lachen wohlklingend.
    Rutledges tief verwurzelte Angst, seine Seele zu öffnen - die ständige Furcht, jemand könnte die Schuld entdecken, die er mit sich herumtrug, die Schrecken der Schützengrabenneurose, die Stimme eines Toten, die er so deutlich wie seine eigene hörte -, legte sich. Auch der Polizist in ihm ließ sich einlullen und die bösen Ahnungen, die ihn beschlichen hatten, als er ihr vorgestellt worden war, verflogen.
    Trotzdem war er froh, dass er bei Tisch nicht neben Mrs. Channing platziert worden war, sondern seine Gastgeberin zu seiner Rechten und Mrs. Talbot links neben sich hatte.
    Das Abendessen reichte fast an die Maßstäbe vor dem Krieg heran.
    Es begann mit einem Consommé à la Celestine, gefolgt von Hammelbraten aus der Keule mit Portweinsauce, gebackenen Zwiebeln, Herzoginnenkartoffeln und Spinat, und zum Abschluss wurden wahlweise würzige Anchovis-Éclairs oder Aprikosentorte gereicht.
    Maryanne erklärte, ihre Köchin sei ein Flüchtling aus Frankreich und könne wahre Wunderdinge vollbringen, eine Witwe, die den Metzger und den Gemüsehändler mit ihrem Charme
derart betört hatte, dass sie ihr in sklavenhafter Ergebenheit dienten.
    Erst als sie es sich wieder im Salon gemütlich gemacht hatten, das Teetablett abgeräumt worden war und die Zeiger der gro ßen Standuhr im Flur auf dreiundzwanzig Uhr fünfundzwanzig vorrückten, überraschte Maryanne alle mit der Neuigkeit, Meredith Channing könne Geister beschwören.
    »Und ich habe sie gebeten, eine Séance abzuhalten, um das neue Jahr - und das neue Jahrzehnt - einzuläuten«, schloss sie und errötete vor Aufregung. »Sie soll in Erfahrung bringen, ob wir in zehn Jahren alle wohlhabend und glücklich sind.«
    Die Frauen lachten, denn Maryannes Begeisterung war ansteckend. Aber Farnum und Talbot tauschten Blicke miteinander aus und rutschten unbehaglich in ihren Sesseln herum, wogegen Simon etwas zu seiner Schwester sagen wollte, dann aber doch den Mund hielt. Und in seinem Hinterkopf hörte Rutledge, dessen Grauen taumelnd wieder zum Leben erwachte, Hamishs Aufschrei: »Nein!«
    Dieses eine Wort schien Rutledges Kopf vollständig auszufüllen und wie ein Querschläger von den Wänden des Raums abzuprallen. Aber niemand wandte den Kopf, um ihn anzustarren. Niemand außer ihm konnte es hören. Er wich erschüttert einen Schritt zurück.
    Als hätte sie die Besorgnis unter ihren männlichen Gästen wahrgenommen, fuhr Maryanne fort: »Natürlich ist das alles nur zum Spaß. Wir haben es bei den Montgomerys gemacht, am zweiten Weihnachtsfeiertag. John hat doch tatsächlich Napoleon heraufbeschworen. Ausgerechnet. Es sind ganz unerhörte Dinge vorgefallen, und wir haben uns kaputtgelacht …«
    Die anderen Männer gaben höfliche, wenn auch halbherzige Laute von sich und gingen widerstrebend auf den Tisch zu. Rutledge blieb ganz allein mitten im Zimmer übrig.
    Mrs. Channing kam ihrer Gastgeberin zuhilfe und heftete ihren Blick auf Rutledges Gesicht. »Ich fürchte, wir haben eine
Person zu viel, Maryanne. Ich habe dir doch gesagt, dass die Anzahl der Leute wichtig ist. Vielleicht würde sich Mr. Rutledge damit begnügen zuzusehen, statt aktiv mitzumachen?«
    Maryanne sah ihn enttäuscht an. »O Ian, dann hättest du doch gar keinen Spaß daran. Ich werde stattdessen aussetzen. Ich möchte keinen der Tricks verraten, und das könnte mir am Tisch durchaus passieren.«
    »Nein, Mrs. Channing hat recht«, sagte er, und bei dem Gedanken, seinen eigenen Geistern öffentlich gegenüberzutreten, hämmerte das Herz in seiner Brust. Es kostete ihn große Mühe, die aufwallende Panik zu unterdrücken. »Schließlich bin ich Polizist und wohl kaum dafür zu haben, die Toten auferstehen zu lassen, obwohl Dr. Gavin und ich diese Gabe gewiss manchmal nützlich fänden.«
    Es war ihm gelungen, das Ganze leichthin abzutun, und die anderen lachten, obwohl ihm nichts ferner lag als Erheiterung. Es gab zu viele Tote, die auf seiner Seele lasteten - es würde zu nichts nütze sein, sie zu erwecken, wenn er ihnen das Leben nicht zurückgeben konnte. Und wenn Mrs. Channing versehentlich
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