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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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wäre, wenn er am letzten Abend des alten Jahres das Haus der Brownings nicht so früh verlassen hätte. Was sollte damit in Bewegung gesetzt werden, dass er die Hülse fand? Wer wollte ihm Grauen einflößen und was hatte das mit seinen Jahren in den Schützengräben zu tun?

    Er dachte an Mrs. Channing, den einzigen Gast, dem er nicht schon vor dem Silvesterabend begegnet war. Hätte sie ahnen können, dass er nicht bis zum Ende der Séance bleiben würde? Wie war es ihr dann aber gelungen, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen und diese Hülse dort zu platzieren, wo er sie finden würde?
    Er hatte mit niemandem gedient, der Channing hieß.
    Er durchforstete sein Gedächtnis nach den Gesichtern, die er in Belton gesehen hatte, als sich dort aus Neugier Leute versammelt hatten, um zu beobachten, wie das mordlustige Wüten eines Mannes ausging. Sie war nicht da gewesen; er hätte sie erkannt. Wer also kam infrage? Wer von circa vier Dutzend Menschen hätte es gewesen sein können? Gewiss jemand, der sich halb verborgen im Hintergrund hielt, weil er zusehen wollte, ohne gesehen zu werden.
    »Oder keiner von ihnen«, gab Hamish zurück.
    Beachy Head dagegen war ungeschützt und bot so gut wie keine Deckung.
    Er wäre mir nicht entgangen. Dazu bin ich ein zu guter Polizist! , sagte er sich. Wenn er mir gefolgt wäre, hätte ich ihn gesehen.
    Es hatte Nerven erfordert, sich schutzlos in diese Weite hinauszubegeben, sich dem Wagen zu nähern, die Hülsen hineinzuwerfen und wieder zu verschwinden. Ich hätte mich jeden Moment umdrehen und ihn erwischen können.
    »Du hattest andere Dinge im Kopf.«
    »So lange war ich nun auch nicht dort.«
    »Länger, als du denkst.«
    Rutledge schüttelte den Kopf.
    »Er war in den Schützengräben«, fuhr Hamish fort. »Wie wäre er denn sonst an die hier gekommen?«
    Rutledge zuckte zusammen und rechnete fast damit, dass Hamish sich vorbeugen würde, um die Patronenhülsen zu berühren. Er hob sie eilig auf, packte sie in die Schublade seines Schreibtischs und drehte den Schüssel um. »Warum ausgerechnet
Munition für ein Maschinengewehr?«, fragte er laut. »Oder Mohnblumen?«
    Hamish antwortete ihm. »In jener letzten Nacht - vor dem Erschießungskommando. Es war ein Maschinengewehrschütze, dessen Nest wir ausheben sollten. Und im Frühling blüht in Flandern der Mohn. Seine Blüten sind rot, die Farbe von Blut.«
     
    Ein paar Tage später war Rutledge auf dem Weg nach Hertford, um bei der Verhandlung eines Mannes, den er vor einigen Monaten festgenommen hatte, seine Aussage zu machen. Auf der Fahrt hatte er kurz angehalten, um in einer Dorfwirtschaft, die jetzt schon ein gutes Stück hinter ihm lag, ein frühes Mittagessen einzunehmen, und jetzt versuchte er, die Zeit wieder hereinzuholen. Mit etwas Glück würde er in einer weiteren halben Stunde die Hauptstadt der Grafschaft erreichen, eine ganze Weile vor dem angesetzten Treffen mit dem Kronanwalt.
    Die Straße hatte sich schon vor einer Weile verengt und schrumpfte jetzt noch mehr zu einer Geraden, die kaum breit genug für ein einzelnes Fahrzeug war. Auf einer Seite führte eine winterlich kahle Hecke einen Hang hinauf und gab ihm das Gefühl, zwischen ihr und den zuckenden Schatten, die ein Gehölz zu seiner Rechten warf, eingeschlossen zu sein.
    Er fühlte sich klaustrophobisch und an eine Laterna-magica-Vorführung erinnert, die verrückt spielte - hell und dunkel, hell und dunkel, während die Bäume vorüberflitzten wie unregelmäßige Zaunpfähle und ohne Substanz.
    Als er vor der Kurve, die vor ihm lag, herunterschaltete, sagte Hamish: »Du wirst uns beide noch in den Straßengraben …«
    Er kam nicht dazu, seine Warnung zu beenden.
    Ein Schuss hallte und ließ ein halbes Dutzend Krähen alarmiert aus den Bäumen aufstieben und in dem Moment heisere Rufe ausstoßen, als die Windschutzscheibe vor Rutledges Augen zersplitterte und Glas wie schimmernde Wassertropfen in sein Gesicht sprühte. Und er konnte die Zugluft spüren, als die
Kugel dicht an seinem Ohr vorüberflog, ehe sie dumpf irgendwo in den Rücksitz hinter ihm einschlug.
    Während er darum kämpfte, die Kontrolle über das Automobil zu behalten, als es ins Schleudern kam und direkt auf das dichte Wurzelgeflecht und die vertrockneten wildwachsenden Blumen am Fuß der Hecke zusteuerte, packte Rutledge das Entsetzen.
    Ihn hatte der Schuss verfehlt - aber Hamish, der direkt hinter ihm saß, konnte er nicht verfehlt haben.
    Die Motorhaube lief Gefahr, sich
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