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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse
Autoren: Sally Nicholls
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an. Auf ihren Schultern, da, wo das Wasser aus ihren Haaren gelaufen ist, sind zwei nasse Flecken.
    »Komm!«, sagt sie. »Schnell – bevor sie uns finden.«
    »Was wollen wir denn machen?«
    »Psst!« Sie packt mich am Arm und zieht mich auf den Bettrand. »Wir gehen nach Hause zurück. Wir hauen ab.«
    Ich bin so überrascht, dass ich sie im ersten Moment nur mit zusammengekniffenen Augen ansehe. So was würde man viel eher von mir erwarten als von Hannah. Ich habe stapelweise Bücher gelesen über Kinder, die von zu Hause ausgerissen sind. Hannah liest nur Girlie-Zeitschriften oder Top of the Pops. Sie hätte doch überhaupt keine Ahnung, wie das geht, ausreißen.
    »Mensch, Hannah«, sage ich. »Dann hör auf, so an mir rumzuzerren. Wir müssen packen. Schlafsäcke. Essen. Ein Messer. Zahnpasta …«
    »Was stellst du dir eigentlich vor, wo wir hingehen?«, fragt Hannah. »Zum Nordpol? Das ganze Zeugs brauchen wir nicht. Wir laufen einfach bis Hexham und steigen in den Zug.«
    Oben am Treppenabsatz hängt eine große Karte von Northumberland. Hannah und ich rechnen uns aus, wie viele Meilen es auf der alten Römerstraße bis nach Hexham sind.
    »Sieben – acht – neun – zehn. Zehn Meilen! Das schaffen wir zu Fuß. Komm!«
    Sie zieht mich die Treppe hinunter. Ich will auf sie einreden, aber Grandma soll uns nicht hören. Es ist wirklich kein Abend zum Ausreißen. Es ist dunkel und stürmisch draußen.
    »Wir können unmöglich zehn Meilen laufen«, sage ich. »Hannaah! Zehn Meilen, da brauchen wir ja ewig. Können wir nicht morgen früh losgehen?«
    »Wir gehen jetzt«, sagt Hannah. Sie zerrt mich am Arm, dass ich fast hinfalle.
    »Was ist mit Grandpa? Was glaubst du, was er macht, wenn er merkt, dass wir weg sind?«
    »Wen interessiert das schon?«, fragt Hannah. Sie lässt meinen Ärmel los und wühlt zwischen den Mänteln an der Garderobe herum. Nebenan in der Küche läuft das Radio, und ich höre Fett in der Pfanne zischen. Grandpa brät Würstchen.
    »Hannah?«
    »Was denn?«
    »Und was ist mit Dad?«
    Hannah steht auf einmal still, einen Arm halb im Jackenärmel.
    »Was soll mit ihm sein?«
    »Meinst du nicht, er schickt uns einfach wieder zurück?«
    Schweigen. Ich sehe auf. Hannah steht vollkommen still da, ihre Jacke baumelt an ihrem Arm.
    »Das ist mir so egal, was Dad macht«, sagt sie. »Und was er sagt, auch. Ich bleibe jedenfalls nicht länger hier.« Damit zieht sie die Tür auf, dass nasser Wind unters Vordach weht, und rennt ins Dunkle hinaus.
    Einen Moment lang zögere ich. Dann renne ich ihr hinterher.
    Sobald ich draußen bin, spüre ich nasse, kalte Luft, die eisig sticht und nach Regen riecht. Der Wind bläst mir die Kapuze nach hinten. Mein Mantel hängt noch am Haken, und hinter mir knallt die Tür zu. Wir sind ausgesperrt.
    »Hannah!«, rufe ich. »Hannah! Warte auf mich!«
    Jemand antwortet, aber ich kann nicht sagen, woher. Links von mir windet sich die Landstraße zwischen den Feldern hindurch bis hinauf ins Moor. Rechts führt sie ins Dorf hinunter, macht eine Kurve um die Dorfwiese und über die Buckelbrücke, an der Kirche vorbei und dem kleinen Pub – dem Full Moon – mit dem hin und her schwingenden Namensschild mit einem Bild vom Mann im Mond. Um nach Hexham zu kommen – muss man da die Straße hoch oder durchs Dorf? Hannah würde das wissen, aber ich habe keine Ahnung. Ich beschließe, den Hügel hinaufzugehen, weg vom Dorf.
    Es ist dunkel. Viel dunkler, als es bei uns zu Hause je wird. Keine Straßenlaternen. Keine Taschenlampe. Vor jedem Schritt muss ich tasten, ich strecke die Arme nach vorn aus für den Fall, dass ich falle. Ich sehe kaum, wo ich hintrete, und stehe prompt in einer Pfütze.
    »Hannaah!«
    Ich ziehe den Kopf ein, kneife die Augen gegen den Regen zusammen und stapfe die Straße hoch. Der Wind rauscht durch die Bäume und treibt mir das Wasser ins Gesicht. Ich stolpere und wäre um ein Haar gefallen. Der Teufel steckt in dieser Nacht – in diesem Sturm. In den Bäumen. Ich bleibe stehen. Ich will nicht allein bis nach Hexham laufen. Ich weiß ja nicht einmal, wie man da hinkommt. Und je weiter ich gehe, desto sicherer bin ich mir, dass Hannah in die andere Richtung gegangen ist.
    Oder vielleicht ist sie auch zu Grandpa zurückgegangen und lässt mich ganz allein hier draußen.
    Es ist so pechschwarz und es regnet so heftig, dass ich gar nicht sagen kann, wie weit ich schon gegangen bin. Der Mond ist aufgegangen, wie ein silberner Daumennagel
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