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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse
Autoren: Sally Nicholls
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überhaupt gibt. In dieser hier geht es viel weniger nach Plan zu als in unserer alten. Wir haben viel mehr Kunst und viel weniger Mathe. Außerdem machen wir mehr Ausflüge.
    Heute gehen wir in die Kirche.
    Im Vorraum händigt Miss Shelley jedem von uns ein Klemmbrett aus und gibt uns die Aufgabe, irgendetwas zu zeichnen.
    »Sucht euch irgendetwas, das euch anspricht, und seht zu, was ihr daraus machen könnt.« Die Jungs machen gleich alle den Mund auf, um zu meckern, aber sie stoppt sie mit einer Handbewegung. »Wenn ihr nichts Aufregendes findet, dann könnt ihr auch Bilder von den Messingplatten über den Gräbern abpausen. Abgepauste Grabplatten kann man nie genug haben. Und jetzt los! Ab mit euch! Stifte sind in der Schachtel.«
    Miss Shelley ist noch ganz jung. Sie hat blonde Haare und trägt lange schwarze Röcke, die beim Laufen rascheln. Wie eine Hexe sieht sie aus. Eine freundliche Hexe, die Heiltränke aus Blumen oder Baumrinden macht. Und schön sieht sie aus.
    Sie mag Sachen, die einen ansprechen. Mich müssen Sachen nicht besonders »ansprechen«, damit sie mir gefallen. Diese Kirche zum Beispiel gefällt mir. Sie ist dunkel und stickig, es riecht nach feinem Staub und alten Steinen. Ich frage mich, ob mein Dad und Tante Meg früher auch mal mit der Schule hier waren, um etwas zu zeichnen, das sie »ansprach«.
    Die Jungen sind schon durch den Mittelgang losgezogen.
    »Guck mal! Ein Toter!«
    »Das ist ’ne Statue!«
    Das sind die Stimmen von Josh und Matthew. Hannah wirft ihnen einen Blick über die Schulter zu.
    »Blödmänner«, sagt sie. Die Jungen beachten sie nicht. Aber Hannah macht sich auch nicht daran, etwas zu suchen, das sie zeichnen kann. Sie bleibt bei einer anderen Statue stehen und beobachtet die beiden.
    Ich trotte hinter den anderen her und streiche dabei mit den Fingern über die dunklen Holzbänke mit ihren kleinen seitlichen Türen, in die Efeuranken geschnitzt sind.
    Auf halber Höhe stehen zwei Steinsäulen. An jeder von ihnen ist oben ein Gesicht. Das Gesicht eines Mannes mit großen Augen und einer langen, dicken Nase. Aus der Haut und den Haaren ragen Blätter. Fröhlich und wild sieht er aus, wie ein Gott aus alten Zeiten oder ein Kobold aus einem Märchen. Er sieht nicht aus wie jemand, den man in eine Kirche lassen sollte.
    Es ist der, hinter dem sie her waren.
    Ich bleibe stehen und starre ihn an. Diese Blätter hatte der Mann von gestern Abend nicht, aber dieselben Augen, dieselbe Nase, dieselben kräftigen Backen. Er ist es, eindeutig.
    »Das ist er doch!«
    Vor lauter Überraschung habe ich es laut gesagt. Die Jungen hören auf, über den glatten Steinboden zu schlittern, und sehen mit großen Augen zu mir herüber.
    Ich drehe mich nach Miss Shelley um.
    »Der Mann da! Den hab ich gestern gesehen, er wurde gejagt.«
    »Ist er da auch an einer Säule hochgeklettert?«, fragt Josh.
    »Und kamen ihm auch Blätter aus der Nase?«
    »Natürlich nicht!«
    Emily ist inzwischen herübergekommen und sieht mich mit ihrem ruhigen Blick an.
    »Gestern Abend ist er weggerannt!«
    »Gestern Abend kannst du ihn gar nicht gesehen haben«, sagt Josh. »Der Kerl ist schon seit Jahren da oben. Der ist bestimmt schon tausend Jahre alt. Der muss ein Geist sein.«
    Ich möchte ihn am liebsten boxen. »Was weißt du denn schon darüber, Josh Haltwhistle? Warst du vielleicht da? Wie willst du wissen, wer das ist?«
    »Das ist der Grüne Mann«, sagt Miss Shelley.
    Sie steht im Mittelgang, ihr schwingender dunkler Rock löst sich im Dunkel auf, sodass man nicht sagen kann, wo das eine anfängt und das andere aufhört. Die Jungen sind jetzt still. Sogar Hannah schaut herüber.
    »Ist das jemand aus der Bibel?«, fragt Alexander unsicher.
    Miss Shelley lacht. Der Bann ist gebrochen.
    »Das eher nicht«, sagt sie. »Das ist der Grüne Mann. So nennt man diese Art von Köpfen, die ganz aus Laub sind oder von Laub umrandet. Man findet ihn in alten Kirchen oder auf Grabplatten. Keiner weiß genau, worauf das zurückgeht.«
    »Der ist auch auf Grabplatten?«, frage ich.
    »Ja«, sagt sie und sieht mich an. »Der Grüne Mann wird mit dem Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt in Verbindung gebracht. Deshalb hat man ihn wohl über Gräbern abgebildet, als Zeichen der Hoffnung.«
    »Aber Menschen werden nicht wiedergeboren«, sagt Alexander.
    »Selten«, antwortet Miss Shelley. So hübsch sieht sie aus, dass ich fast dahinschmelze. »Okay, hört zu. Der Grüne Mann ist ein alter Gott, aus einer Zeit, in
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