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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse
Autoren: Sally Nicholls
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etwas.«
    »Aber du bist verletzt«, sage ich.
    Das stimmt. Seine Beine sind zerfleischt von den Wolfshunden. Dunkles Blut quillt aus den Wunden, rinnt über den zerfetzten Stoff seiner Hose. Regen und Stoff und Blut.
    Wieder spüre ich Schluchzer in meiner Kehle aufsteigen und sehe schnell weg.
    »Niemand ist verletzt«, sagt er. Dann sieht er mich an. »Hast du es weit bis nach Hause?« Ich schüttle den Kopf, und er sagt: »Geh nach Hause. Du solltest so spät nicht mehr draußen sein. Hat deine Mutter dir das nicht beigebracht?«
    »Meine Mutter ist tot«, sage ich und fange gleich wieder an zu weinen.
    Ich höre ein Geräusch von der Straße, ein Rascheln im Gebüsch, und werde ganz starr vor Schreck. Ich spanne den Bauch fest an, damit die Tränen unten bleiben. Der Mann packt mich am Arm und reckt die Nase in die Luft, wie ein Tier, das Gefahr wittert.
    Wieder raschelt es im Gebüsch, und ein Vogel steigt auf; eine Krähe, denke ich, während der Vogel wild mit den Flügeln schlägt. Gleich darauf ist er verschwunden. Der Mann lockert seinen Griff, und während ich hickse, wird mir auf einmal klar, wie dumm ich aussehen muss, lehmbeschmiert und das Gesicht voller Rotz und Tränen. Der Gejagte beugt sich vor. »Geh nach Hause«, sagt er wieder, jetzt schon drängender. »Oder soll die Wilde Jagd dich finden?« Vor lauter Angst antworte ich nicht. Er packt mich am Arm. »Sei vorsichtig, pass gut auf. Aber geh jetzt.«
    Außer uns beiden ist niemand in der Dunkelheit, niemand auf der ganzen Welt. Ich will ihn nicht verlassen, aber bleiben möchte ich auch nicht. Ich komme mühsam auf die Füße und stolpere die Straße hinunter, nach Hause.
     

2 - Verschwunden
    Ich bin noch nicht weit gegangen, als ich den Schein einer Taschenlampe sehe und eine Stimme höre.
    »Molly! Molly!«
    »Grandma!« Ich renne los und stoße mit ihr zusammen.
    »Molly!« Sie drückt mich an sich, dann schiebt sie mich ein Stück weg und schüttelt mich, nicht sehr fest, aber es reicht, dass ich geschockt bin. »Wieso machst du denn so was, läufst einfach weg? Haben wir nicht schon Sorgen genug?«
    »Ich bin nicht – «, sage ich und muss gleich wieder weinen. Grandma legt einen Arm um mich.
    »Hey, ist ja gut, ist ja gut. Lass gut sein. Ich bin ja bei dir.«
    Aber ich habe nichts vergessen.
    »Grandma! Da ist ein Mann.«
    Sie macht einen Schritt zurück. »Ein Mann?«
    »Er ist verletzt.« Ich weiß genau, wo er ist, beim Weißdorn. »Da drüben, schau nach.«
    Grandma leuchtet mit der Taschenlampe in die Richtung, in die ich zeige. Aber da ist nur die Straße, sonst nichts.
    »Du erzählst nicht wieder Geschichten, Moll?«
    »Nein! Guck doch nach! Ich zeig ihn dir!«
    Ich ziehe sie näher heran.
    »Hey, Moll, jetzt mal langsam. Immer mit der Ruhe. Wo war er?«
    »Hier!« Ich nehme ihre Hand und schwenke die Taschenlampe herum. Da ist der Weißdorn, und da ist das schlammige Stück, wo ich die Böschung runtergerutscht bin. Aber ein Mann ist da nicht. Ich renne ein Stück, um zu sehen, wo er hin ist.
    »He!«, rufe ich. »Wo bist du?«
    »Moll«, sagt Grandma. »Molly! Komm zurück. Komm her. Jetzt erzählst du mir erst mal, was los ist.«
    Ich laufe zu ihr zurück.
    »Da war ein Mann, ein ganz seltsamer, ohne Schuhe und ohne Hemd, der kam die Straße runtergerannt, und auf einmal kamen welche, die waren hinter ihm her, eine richtige Jagd war das, mit Hunden – nein, Wölfen – und einem Mann, dem Hörner aus dem Kopf wuchsen. Die Wölfe haben den anderen Mann geschnappt, und mich hätten sie auch erwischt, aber ich hatte mich versteckt. Und dann waren sie plötzlich alle weg, die ganze Meute, bis auf den Mann. Er hat mit mir gesprochen, er hat gesagt, ich soll nach Hause gehen, aber ich soll vorsichtig sein und gut aufpassen. Das hab ich gemacht, und dann – «
    »Und dann ist er verschwunden«, sagt Grandma. »Oder hat er sich vielleicht in eine Teekanne verwandelt?«
    »Ja«, sage ich. »Ich meine, nein. Er ist einfach verschwunden. Aber er war hier! Sieh doch!«
    Ich greife wieder nach ihrer Hand, in der sie die Taschenlampe hält, und leuchte auf die Stelle an der Landstraße, wo er gelegen hat.
    »Und was soll das sein, was ich da sehe?«, grummelt Grandma.
    »Hier!«, sage ich. »Nein – hier – nein, warte – irgendwo hier war’s, das weiß ich.« Ich ziehe sie näher heran. »Da! Sieh doch, da ist Blut. Genau da hat er gelegen!«
    So im Dunkeln ist es schwer zu unterscheiden, wo Regen und Schlamm und Blutflecken
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