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Zehnter Dezember: Stories (German Edition)

Zehnter Dezember: Stories (German Edition)

Titel: Zehnter Dezember: Stories (German Edition)
Autoren: George Saunders
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umzudrehen, aber wenigstens den Kopf konnte er bewegen, so dass der Mund nicht mehr im Schnee lag.
    Der Junge hatte ein Problem.
    Völlig durchnässt bei minus zwölf.
    Todesurteil.
    Eber ging auf ein Knie und erklärte dem Jungen mit ernster väterlicher Stimme, dass er aufstehen müsse und sich bewegen, sonst könne er seine Beine verlieren oder sterben.
    Der Junge starrte Eber an, blinzelte und blieb liegen.
    Er packte den Jungen am Mantel, rollte ihn herum und richtete ihn einigermaßen auf. Das Zittern des Jungen ließ sein eigenes Zittern nach gar nichts aussehen. Als hätte der Junge einen Presslufthammer in der Hand. Er musste ihn wärmen. Wie bloß? Umarmen, sich auf ihn drauflegen? Das wäre wie zwei Eis am Stiel aufeinandergelegt.
    Eber fiel sein Mantel ein, draußen auf dem Eis, am Rand des schwarzen Wassers.
    Puh.
    Einen Ast finden. Nirgendwo Äste. Wo zum Kuckuck war ein guter abgefallener Ast, wenn man einen –
    Schon gut, schon gut, er würde es ohne Ast tun.
    Er ging fünfzehn Meter am Ufer entlang, trat auf den Teich, ging in einem großen Bogen über das feste Eis, wandte sich dem Ufer zu und näherte sich dem schwarzen Wasser. Seine Knie zitterten. Warum? Er hatte Angst, er könnte einbrechen. Ha. Depp. Angeber. Der Mantel war knapp fünf Meter weg. Seine Beine stießen sich vom Boden ab. Seine Beine waren abstoßend.
    Herr Doktor, meine Beine sind abstoßend.
    Was Sie nicht sagen.
    Er näherte sich trippelnd. Der Mantel war drei Meter weg. Er ging auf die Knie, rutschte auf Knien näher heran. Ging auf den Bauch. Streckte einen Arm aus.
    Rutschte auf dem Bauch weiter.
    Noch bisschen.
    Noch bisschen.
    Dann hatte er eine winzige Ecke mit zwei Fingern erwischt. Er zerrte ihn zu sich, rutschte mit so etwas wie einem Rückwärts-Brustschwimmzug zurück, ging auf die Knie, stand auf, wich noch ein paar Schritte zurück und war von neuem ungefähr fünf Meter weit weg und in Sicherheit.
    Dann war es wie früher, wenn er Tommy oder Jodi fürs Bett fertig machte und sie schon halb ausgeknipst waren. Man sagte »Arm«, und der Junge hob einen Arm. Man sagte »Anderer Arm«, und der Junge hob den anderen Arm. Als der Junge seinen Mantel ausgezogen hatte, konnte Eber sehen, dass sein Hemd zu Eis wurde. Eber zog ihm das Hemd aus. Armer kleiner Bursche. Ein Mensch war doch nur Fleisch auf einem Gestell. Der kleine Bursche würde bei dieser Kälte nicht lange durchhalten. Eber zog sein Schlafanzugoberteil aus und zog es dem Jungen an, schob den Arm des Jungen in den Mantelärmel. Darin steckten Ebers Mütze und Handschuhe. Er streifte sie dem Jungen über und zog den Reißverschluss des Mantels hoch.
    Die Hosen des Jungen waren steifgefroren. Seine Stiefel waren Eisskulpturen von Stiefeln.
    Wenn schon, denn schon. Eber setzte sich auf das Boot, zog seine Stiefel und Socken aus, zog seine Schlafanzughose aus, setzte den Jungen auf das Boot, kniete sich vor ihm hin und zog ihm die Stiefel aus. Er klopfte die Hose mit ein paar Fausthieben locker und hatte bald das eine Bein teilweise draußen. Er zog bei minus zwölf Grad einen Jungen aus. Vielleicht war das gerade falsch. Vielleicht würde er den Jungen damit umbringen. Er wusste es nicht. Er wusste es einfach nicht. Verzweifelt boxte er noch ein paar Mal auf die Hose. Dann stieg der Junge raus.
    Eber zog ihm die Schlafanzughose an, dann die Socken, dann die Stiefel.
    Der Junge stand in Ebers Kleidung da, schwankte mit geschlossenen Augen.
    Und jetzt gehen wir, okay?, sagte Eber.
    Nichts.
    Eber gab dem Jungen einen ermutigenden Klaps auf die Schultern. So footballmäßig.
    Wir bringen dich jetzt nach Hause, sagte er. Wohnst du in der Nähe?
    Nichts.
    Ein härterer Klaps.
    Der Junge starrte ihn verblüfft an.
    Klaps.
    Der Junge ging los.
    Klaps-klaps.
    Wie auf der Flucht.
    Eber trieb den Jungen vor sich her. Wie ein Cowboy eine Kuh. Zuerst schien die Angst vor den Klapsen den Jungen zu motivieren, aber dann setzte die gute alte Panik ein, und er fing an zu rennen. Bald konnte Eber nicht mehr Schritt halten.
    Der Junge war an der Bank. Der Junge war am Anfang des Pfades.
    Guter Junge, schaff dich nach Hause.
    Der Junge verschwand im Wald.
    Eber kam wieder zu sich.
    O Mann. O wow.
    Er hatte noch nie Kälte kennengelernt. Noch nie Müdigkeit.
    Er stand in seiner Unterwäsche im Schnee, nicht weit von einem umgekippten Boot.
    Er humpelte zu dem Boot hin und setzte sich in den Schnee.
    Robin rannte.
    An der Bank und dem Anfang des Pfades vorbei, in den Wald, über den
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