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Zehnter Dezember: Stories (German Edition)

Zehnter Dezember: Stories (German Edition)

Titel: Zehnter Dezember: Stories (German Edition)
Autoren: George Saunders
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hatte was mit der Herzklappe, was mit Panik, und diese Sache könnte –
    So war er aber – so war er nicht. So was hätte er nicht getan. Nie getan. Nur dass er – es getan hatte. Er war gerade dabei. Es war bereits im Gang. Wenn er sich nicht in Bewegung setzte, würde es – würde es bald geschafft sein. Getan.
    Heute wirst du mit mir im Paradiese –
    Er musste kämpfen.
    Schaffte es aber nicht mal mehr, die Augen offen zu halten.
    Er versuchte, letzte Gedanken an Molly zu schicken. Verzeih mir, mein Schatz. Der größte Loser aller Zeiten. Vergiss diesen Teil. Vergiss, dass ich solcherart abgetreten bin. Du kennst mich. Du weißt, ich habe es nicht so gewollt.
    Er war in seinem Haus. Er war nicht in seinem Haus. Er wusste das. Aber er konnte jede Einzelheit erkennen. Da stand das leere Krankenhausbett, das Porträtfoto von IhmMollyTommyJodi, wie sie um einen Pseudo-Rodeozaun herum posierten. Da stand der kleine Nachttisch. Seine Medikamente im Pillendöschen. Das Glöckchen, mit dem er Molly rief. Was für ein Ding. Ein grausames Ding. Plötzlich erkannte er glasklar, wie grausam es war. Und selbstsüchtig. O Gott. Was war er für ein Mensch? Die Haustür ging auf. Molly rief ihn. Er würde sich in der Glasveranda verstecken. Rausspringen, sie überraschen. Irgendwie hatten sie umgebaut. Ihre Glasveranda war jetzt die Glasveranda bei Mrs Kendall, der Klavierlehrerin seiner Jugend. Wäre doch nett für die Kinder, Klavierunterricht zu bekommen in demselben Raum, wo er –
    Hallo?, sagte Mrs Kendall.
    Sie meinte eigentlich: Stirb noch nicht. Hier in der Glasveranda sind wir viele, die ein hartes Urteil über dich sprechen wollen.
    Hallo, hallo!, rief sie.
    Um den Teich kam eine silberhaarige Frau herum.
    Er brauchte nur zu rufen, sonst nichts.
    Er rief.
    Um ihn am Leben zu halten, häufte sie alle möglichen Dinge des Lebens auf ihn, Dinge, die nach einem Zuhause rochen – Mäntel, Pullover, einen Blumenregen, eine Mütze, Socken, Schuhe –, zog ihn mit erstaunlicher Kraft auf die Füße und bugsierte ihn hinein in ein Baumgewirr, ein Baumwunderland voller Eiszapfen. Er hatte einen Kleiderhaufen auf sich. Er war das Bett bei einer Party, wo alle die Kleider draufwarfen. Sie wusste auf alles eine Antwort: wo er langgehen sollte, wann er Pause machen sollte. Sie war so stark wie ein Ochse. Er war jetzt auf ihrer Hüfte wie ein Baby; sie hatte beide Arme um seine Taille geschlungen und hievte ihn über eine Wurzel.
    Sie waren gefühlt stundenlang unterwegs. Sie sang. Schwatzte. Fauchte ihn an, erinnerte ihn mit Stupsern gegen seine Stirn (mitten auf seine Stirn) daran, dass ihr verdammtes Kind zu Hause sei, praktisch erfroren , und deshalb müssten sie sich jetzt ranhalten .
    Meine Güte, es gab so viel zu tun. Falls er es schaffte. Er würde es schaffen. Diese Frau würde nicht zulassen, dass er es nicht schaffte. Er würde versuchen müssen, Molly begreiflich zu machen – begreiflich, warum er es getan hatte. Ich hatte Angst, ich hatte Angst, Mol . Vielleicht wäre sie bereit, es Tommy und Jodi nicht zu erzählen. Es gefiel ihm nicht, dass sie von seiner Angst erfuhren. Und erfuhren, was für ein Narr er gewesen war. Ach, scheiß drauf! Erzähl’s doch aller Welt! Er hatte es getan! Er hatte sich dazu getrieben gefühlt, er hatte es getan, und das war ’ s. Das war er. Das war ein Teil von ihm. Keine Lügen mehr, kein Schweigen, jetzt würde ein neues, ein anderes Leben kommen, wenn er nur –
    Sie überquerten den Fußballplatz.
    Da stand der Nissan.
    Sein erster Gedanke war: Steig ein, fahr den Wagen nach Hause.
    O nein, das machen Sie nicht, sagte sie mit ihrem rauchigen Lachen und führte ihn in ein Haus. Ein Haus am Park. Er hatte es eine Million Mal gesehen. Und jetzt war er drinnen. Es roch nach Männerschweiß und Spaghettisoße und alten Büchern. Wie eine Bibliothek, wo verschwitzte Männer hingingen und Spaghetti kochten. Sie setzte ihn vor einen Holzofen und brachte ihm eine braune Decke, die nach Medikamenten müffelte. Redete nur in Anweisungen: Trinken Sie das, geben Sie das her, wickeln Sie sich ein, wie heißen Sie, wie lautet Ihre Telefonnummer?
    Was für ein Ding! Erst fast in Unterwäsche im Schnee sterben und dann das hier! Wärme, Farben, Hirschgeweihe an den Wänden, ein altes Kurbeltelefon, wie man es aus Stummfilmen kannte. Das war ein Ding. Jede Sekunde war ein Ding. Er war nicht in der Unterhose im Schnee am Teich gestorben. Der Junge war nicht tot. Er hatte niemanden getötet.
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