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Zaubersommer in Friday Harbor

Zaubersommer in Friday Harbor

Titel: Zaubersommer in Friday Harbor
Autoren: Lisa Kleypas
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lagen Zottelteppiche, dünne Pressholzwände unterteilten die
Zimmer, und die Zuckerbäckerverzierungen aus Holz waren unter Dutzenden
Schichten billiger Farbe verschwunden.
    Von den
Fenstern aus beobachtete der Geist die Seevögel – Wasserläufer, Brachvögel,
Sand- und Kiebitzregenpfeifer –, die am Strand umhertrippelten und in den
Gezeitentümpeln nach Nahrung suchten. Nachts starrte er hinauf zu den Sternen,
den Kometen und dem wolkenverhangenen Mond, und manchmal sah er sogar
Nordlichter am Horizont.
    Wie lange
er schon in dem Haus weilte, wusste der Geist nicht genau. Da sein Herz nicht
mehr schlug, fehlte ihm jeder Anhaltspunkt für den Sekundentakt und damit auch
jedes Zeitgefühl. Er wusste nur, dass er sich eines Tages hier vorgefunden
hatte, ohne Namen, ohne Körper, ohne zu wissen, wer er war. Er hatte keine
Ahnung, wie er gestorben war, geschweige denn, wo und warum. Lediglich am Rande
seines Bewusstseins tanzten ein paar Erinnerungen. So war er sich
beispielsweise sicher, dass er einen Teil seines Lebens auf San Juan verbracht
hatte, vielleicht als Schiffer oder Fischer. Wenn er auf die False Bay hinausschaute,
fielen ihm Dinge ein, die mit dem Meer hinter der Bucht zu tun hatten: die
schmalen Wasserstraßen zwischen den Inseln von San Juan, die Meerengen rings um
Vancouver. Er erinnerte sich an die zerklüftete Küstenlinie des Puget Sound
und die kleinen Buchten, die sich wie Drachenzähne in die Olympic Halbinsel
schlugen.
    Außerdem
kannte er viele Lieder – und von ihnen sämtliche Verse, den gesamten Text, ja
sogar die einleitenden Melodien. Wenn er das Schweigen um sich herum nicht
mehr aushielt, sang er vor sich hin, während er die leeren Räume des Hauses
durchstreifte.
    Sehnlichst
wünschte er sich Kontakt zu einem Lebewesen, irgendeinem, aber nicht einmal die
Insekten, die über den Fußboden krabbelten, nahmen ihn wahr. Wenn er doch
wenigstens irgendetwas über jemanden gewusst hätte, sich an Menschen erinnern
könnte, die er einmal gekannt haben musste! Aber solche Erinnerungen waren ihm
verschlossen, und er hoffte und wartete auf den geheimnisvollen Tag, an dem ihm
sein Schicksal endlich klar werden würde.
    Eines
Morgens tauchten Besucher auf.
    Wie
elektrisiert sah er, wie sich ein Auto näherte und seine Räder tiefe Schneisen
in das hochgewachsene Unkraut auf der unbefestigten Zufahrt schlugen. Der Wagen
hielt an, zwei Leute stiegen aus: ein junger dunkelhaariger Mann, groß und muskulös,
und eine ältere Frau in Jeans, flachen Schuhen und einer rosa Jacke.
    „...konnte
ich kaum glauben, dass ich es geerbt hatte”, sagte sie. „Meine Cousine hat
es in den Siebzigern zurückgekauft. Ursprünglich wollte sie es restaurieren und
dann wieder verkaufen, aber daraus ist nie etwas geworden. Wirklich von Wert
ist nur der Grund und Boden. Das Haus wirst du zweifellos abreißen
müssen.”
    „Hast du es
schätzen lassen?”, fragte der Mann.
    „Das
Grundstück?”
    „Nein, die
Kosten für eine Restaurierung des Hauses.”
    „Himmel,
nein. Es hat gewaltige Substanzschäden. So ziemlich alles müsste von Grund auf
erneuert werden.”
    Völlig
verzaubert starrte der Mann das Haus an. „Ich würde gern einen Blick ins Innere
werfen.”
    Skeptisch
runzelte die Frau die Stirn. „Oh, Sam, ich halte das für gefährlich.”
    „Ich werde
sehr vorsichtig sein.”
    „Du könntest
dich verletzen, und dafür möchte ich nicht die Verantwortung übernehmen. Du
könntest durch den Fußboden brechen, oder ein Deckenbalken fällt dir auf den
Kopf. Außerdem, wer weiß, was für Ungeziefer ...”
    „Mir wird
schon nichts passieren.” Sein Ton wurde bittend. „Fünf Minuten. Bitte. Ich
möchte nur einen kurzen Blick hineinwerfen.”
    „Ich sollte
dir das wirklich nicht erlauben.”
    Sam grinste
sie lausbübisch an. „Aber du wirst es mir erlauben. Du kannst mir nämlich
nicht widerstehen.”
    Ihr Versuch,
ihn mit einem strengen Blick zu bedenken, endete in einem zögernden Lächeln.
    So war ich
auch einmal, stellte der Geist verblüfft fest. Erinnerungen, die er nicht
festzuhalten vermochte, durchzuckten ihn, Erinnerungen an lang zurückliegende
Flirts, an Abende, an denen er auf einer Vorderveranda gesessen hatte. Auch er
hatte einmal gewusst, wie man Frauen jeden Alters bezaubern und zum Lachen
bringen konnte. Hatte Mädchen geküsst, deren Atem nach süßem Tee schmeckte,
deren Nacken und Schultern nach parfümiertem Puder rochen.
    Der junge
Mann hüpfte auf die Vorderveranda und warf
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