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Zaubersommer in Friday Harbor

Zaubersommer in Friday Harbor

Titel: Zaubersommer in Friday Harbor
Autoren: Lisa Kleypas
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gerade aus einem dunklen Raum ins Sonnenlicht getreten.
    Langsam
ging Sam nach draußen in seinen stillen Weinberg, um zu schauen, welchen Zauber
Lucy dort für ihn bewirkt hatte. Die Luft war durchdrungen vom Duft lebender,
wachsender Organismen und dem Salz des Meeres. Sams gesteigerten Sinnen
schienen die Weinstöcke grüner als sonst, der Boden fruchtbarer. Vor seinen
Augen wurde der Himmel so strahlend blau, dass ihm die Tränen kamen. Das Land
wirkte wie ein idealisiertes Gemälde, und doch war alles echt. Ein Kunstwerk,
das man durchschreiten, berühren und schmecken konnte.
    Irgendetwas
ging vor in seinem Weinberg ... irgendeine Naturgewalt oder ein Zauber, eine
wortlose Sprache, die die Weinstöcke
beschwor, das Hohelied der Photosynthese zu singen.
    Wie im
Traum wanderte Sam zu dem knorrigen Weinstock, den er nie hatte identifizieren
können. Er fühlte dessen Energie, noch bevor er ihn berührte. Der Stamm und die
Reben vibrierten und blühten vor Leben. Er spürte, wie tief die Pflanze sich
verwurzelt hatte, wie fest sie im Boden verankert war, sodass sie unverrückbar
dastand. Mit den Händen strich er über die Blätter und hörte, wie sie ihm
zuflüsterten, spürte, wie das Geheimnis des Weinstocks von seiner Haut
aufgenommen wurde. Er pflückte eine der blauschwarzen Beeren, steckte sie zwischen
seine Zähne und biss zu. Sofort war sein Mund erfüllt von einem intensiven und
komplexen Geschmack, der an das bittersüße seichte Leben der Vergangenheit
erinnerte und dann die reichhaltigen dunklen Geheimisse der Dinge beschwor, die
noch außerhalb seiner Reichweite lagen.
    Ein Auto
näherte sich, er drehte sich um und sah Alex in seinem BMW die Einfahrt
heraufkommen. So früh erschien Alex sonst nie. Der Wagen wurde langsamer, Alex
öffnete das Wagenfenster und fragte: „Willst du einsteigen?”
    Wie in
Trance schüttelte Sam den Kopf und winkte ihn weiter. Er konnte nicht
erklären, was geschehen war, konnte nicht mal ansatzweise die richtigen Worte
finden ... und Alex würde es früh genug selbst entdecken.
    Als Sam das
Haus erreichte, war sein Bruder bereits im zweiten Stock.
    Sam ging
nach oben und fand ihn wie erstarrt vor dem Fenster. Auf seinem Gesicht lag
kein Staunen, nur die verdutzte Anspannung eines Mannes, der seine eigene
unumstößliche Weltanschauung hatte. Alex wollte auch dann noch eine Erklärung
haben, wenn es eindeutig keine gab. Oder doch wenigstens keine, die er
akzeptieren konnte.
    „Was hast
du damit gemacht?”, fragte Alex.
    „Nichts.”
    „Wie ist
...”
    „Ich weiß es nicht.”
    Sie standen
beide da, starrten das Buntglasfenster an, das sich weiter verändert hatte,
während Sam draußen gewesen war. Der aschfahle Mond war verschwunden, der
Glashimmel erstrahlte in Gold- und Blautönen, erfüllt von Sonnenlicht. Das
Blattwerk war noch dichter geworden, leuchtete smaragdgrün durch
Nebelschwaden, die die Äste nur noch erahnen ließen.
    „Was hat
das zu bedeuten?”, fragte Alex sich laut.
    Sichtbar
gemachte Gefühle – das hatte Lucy einmal über ihr Buntglas gesagt.
    Dies,
dachte Sam, ist sichtbar gemachte Liebe. Alles hier. Der Weinberg, das Haus,
das Fenster, der Weinstock..
    Die
Erkenntnis war so einfach, dass viele sie wahrscheinlich als zu simpel für
ihren Verstand abgetan hätten. Nur diejenigen, die sich ein Restempfinden für
Wunder bewahrt hatten, konnten es verstehen. Liebe war das Geheimnis hinter
allem. Liebe ließ Weinstöcke gedeihen, füllte den leeren Raum zwischen den
Sternen und gab dem Boden unter seinen Füßen Festigkeit. Es spielte keine
Rolle, ob man das gelten ließ oder nicht. Man konnte weder die Bewegung der
Erde stoppen, noch Ebbe und Flut zurückhalten, noch die Anziehungskraft des
Mondes ausschalten. Man konnte den Regen nicht abstellen und keine Jalousie
vor die Sonne ziehen. Und ein Menschenherz war nicht weniger mächtig als alles
andere.
    Er war in
der Vergangenheit eingesperrt gewesen wie in einer Gefängniszelle, und er
hatte nie begriffen, dass er selbst die Macht hatte, jederzeit seine Zelle zu
verlassen. Nicht nur die Folgen der Verfehlungen seiner Eltern hatte er
durchlitten, nein, er hatte sie freiwillig mit sich geschleppt. Aber warum
sollte er den Rest seines Lebens so verbringen – niedergedrückt von Ängsten,
Verletzungen, Geheimnissen –, wenn er doch einfach nur loslassen musste, um
nach dem greifen zu können, was er sich am meisten wünschte? Er konnte Lucy
haben. Er konnte sie lieben, verrückt, voller Freude und
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