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Zaehme mich

Zaehme mich

Titel: Zaehme mich
Autoren: Emily Maguire
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Daumen auf die Innenseite ihrer Knöchel. »Pass gut auf dich auf.«
    »Du auch.« Nach einem flüchtigen Kuss auf die Wange drückte sie noch einmal seine Hände und ging mit ruhigem Schritt aus dem Schlafzimmer. Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, begann sie zu laufen.
    Sie fand Daniel auf dem Sofa. Bis auf ein Paar schwarze Socken war er nackt. Ein rauer, fast weißer Stoppelbart bedeckte seine Wangen. Unter seinem linken Schenkel war eine Tüte gesalzene Erdnüsse eingeklemmt. Ein Arm war am Ellbogen abgewinkelt und deutete über seinem Kopf auf die Wand. Der andere Arm hing über der Sofakante, und seine Fingerspitzen streiften den Boden.
    »Daniel?«
    Er rührte sich nicht.
    Auf dem Boden lag ein Foto von Sarah in einer Pfütze Erbrochenem. Die Magensäure hatte Sarahs Gesicht weggeätzt, es war nur noch der Oberkörper mit einem wirbeligen Schatten als Kopf zu sehen. Daneben ein Aschenbecher, auf dessen Rand in vollkommenem Gleichgewicht eine Zigarettenkippe lag. Eine Flasche Wodka, leer, und eine Flasche Scotch, zu einem Drittel voll.
    Sarah stieg über den Schnaps und griff nach seiner Hand. »Daniel?« Zum ersten Mal verstand sie, was es hieß, wenn einem das Herz bis zum Hals schlägt. Ihres versperrte ihr die Luftröhre und drückte hinauf bis zum Gaumen. Es stieß schon gegen ihre Zähne.
    Seine Hand war schlaff und kalt. Sarah zwang sich, ruhig zu atmen, und dachte daran, nicht den Daumen, sondern den Zeigefinger zu benutzen, als sie sein Handgelenk berührte. Ihr Herz schlug jetzt nicht mehr bis zum Hals, es füllte ihre Ohren mit seinem verzweifelten Pochen. Ihre Hand zitterte so stark, dass sie nichts spürte.
    Er will mir nur Angst einjagen, dachte sie. Und dann: Vielleicht wollte mir auch Jamie nur Angst einjagen.
    Sarah drückte fest auf Daniels Handgelenk, dann noch fester. Schließlich gab sie es auf und zog an seinem Arm.
    Der kalte weiße Arm zuckte. Dann wich er zurück und schob sich unter den Körper.
    Sarah spürte, wie alles in ihr hochstieg. All die Dinge, die Mike gesagt hatte, die Dinge, über die sie seiner Ansicht nach weinen sollte, die Dinge, über die sie nicht weinen konnte und die ihr egal waren, alles drängte aus ihr heraus. Sie hatte sich für abgestumpft gehalten, doch das stimmte nicht, sie war nur betäubt gewesen, und jetzt war die Betäubung abgeklungen, und die Wunden schrien vor Schmerz.
    Einige Stunden später ließen die Weinkrämpfe so weit nach, dass sie den Kopf heben konnte. Ihre Blicke trafen sich, und er stöhnte vor Erleichterung und Leid. Sarah folgte seinem Beispiel. Ihre Körper verschmolzen, und wieder verging Zeit.
    »Du liebst mich.« Daniels Worte waren keine Frage, und Sarah erwiderte nichts. Es war noch nie eine Frage gewesen und würde auch mit einem Ja oder Nein als Antwort keine werden.
    Höchste Zeit also, sich mit einigen Realitäten abzufinden. Zuallererst dieser jämmerliche alte Mann, der nach Pisse und Kotze roch. Seine Realität war zugleich hässlicher und süßer, als sie es sich bisher eingestanden hatte. Schäbiger und menschlicher. Aber dennoch gehörte sie nicht weniger zu ihr als zuvor.
    »Jemand ist gestorben«, bemerkte sie.
    »Aber nicht du. Ich auch nicht.«
    »Nein. Nicht sehr fair, finde ich.«
    »Das war es noch nie.«
    Der anderen Realität ins Auge zu sehen war schwieriger, aber auch wichtiger. In den zwanzig Sekunden, in denen sie Daniel für tot gehalten hatte, hatte Sarah Furcht, Abscheu und Bedauern gespürt, aber in einem tiefen, unerforschten Winkel ihrer selbst hatte sie auch erkannt, dass sie ohne ihn leben konnte. Sie wusste, dass diese dunkle, zügellose, rätselhaft schöne Verstrickung ihre Entscheidung war. Sie war nicht vom Schicksal bestimmt, und sie konnte jederzeit gehen, wenn es ihr passte. Falls sie blieb, dann in dem Wissen, dass ein Leben mit ihm nur eine von einer Million Möglichkeiten war.
    Andererseits ist das Leben ein ständiges Schrumpfen von Möglichkeiten. Manche verschwinden mit dem Leben von geliebten Menschen. Andere lässt man nur bedauernd, zögernd und mit tiefer, tiefer Trauer los. Doch die Entschädigung für alle ungelebten Leben findet man in der berauschenden Freude darüber, dass das Leben, das man hier und jetzt hat, dasjenige ist, das man gewählt hat.
    Darin liegt Macht und auch Hoffnung.

ANMERKUNGEN
    S. 24/25 John Donnes Lieder und Gedichte John Donne (1572-1631) Songs and Sonnets S. 25
    Thomas Carew »Die Verzückung«
    Thomas Carew (1595-1645?) »The
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