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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter
Autoren: Xinran
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»Heimat« mitnehmen, und die durften nicht schwerer als fünfundzwanzig Kilo sein.
    Abgesehen von einigen Artikeln des täglichen Bedarfs, die sich bei mir schon immer in Grenzen hielten, gab es andere Habseligkeiten, an denen ich besonders hing und die ich bis zu meiner Abreise im Laufe von zwanzig Erwachsenenjahren zusammengetragen hatte: hauptsächlich Bücher, Steine und Musikkassetten. All diese Dinge hatten mich zu der Person gemacht, die ich bin, als Frau wie auch als Mutter; und die Geschichte von »der ersten Mutter« muss mit meiner eigenen Reise beginnen …
    Meine Liebe zu Büchern begann, als die Flammen der Kulturrevolution eine bis dahin glückliche Kindheit zerstörten. Tagtäglich wurde ich von anderen in der Schule gepiesackt und verprügelt, bis irgendwann einer meiner Lehrer Mitleid mit mir hatte und mich in ein Hinterzimmer voller Bücher brachte, die er vor den Autodafés der Roten Garden gerettet hatte. In diesem kleinen Raum (wie in
Verborgene Stimmen
beschrieben), dessen Fenster mit Zeitungspapier zugeklebt war, begann ich, in dem Licht zu lesen, das durch ein kleines Loch hereinfiel. Das erste große Werk der Literatur, das mir eine Flucht aus meinem Elend bieten sollte, war eine chinesische Übersetzung von Victor Hugos
Les Misérables.
Als ich las, welche Demütigungen die kleine Cosette erdulden musste, während sie in dem schäbigen Gasthaus schuftete, stellte ich erstaunt fest, dass es Menschen auf der Welt gab, denen es noch sehr viel schlechter erging als mir.
    Die Kämpfe in
Les Misérables,
das Elend und die blutigen Auseinandersetzungen, die das Leben seiner Protagonisten zeichneten, rückten in jenen dunklen Tagen für mich wieder einiges ins rechte Lot. Ich war nicht das einzige einsame, leidende Kind. Ich lebte in der wirklichen Welt, und die war nicht nur böse. Wenigstens musste ich nicht wie diese Romanfiguren von der Hand in den Mund leben, während um mich Kämpfe tobten. Wenigstens hatte ich genug zu essen, und ich hatte Bücher.
    Ich begann, fast mein ganzes Geld für Geschichtsbücher, Biografien, Bücher über die Kulturen der Welt und Übersetzungen der Klassiker auszugeben, bis ich schließlich kaum noch wusste, wohin damit. Jeder neue Band schenkte mir nicht nur ein wunderbar befriedigendes Gefühl, sondern auch neues Wissen, und ich las bis tief in die Nacht. Als ich emigrierte, musste ich nicht nur in einem fremden Land Wurzeln schlagen und noch mal ganz neu »erwachsen« werden. Ich musste auch schmerzlichen Abschied von meiner Büchersammlung nehmen, die inzwischen mehrere tausend Bände umfasste. Über zweitausend gingen an den Baixia-Kinderpalast in Nanjing, wo ich eine kleine Bibliothek für Eltern einrichtete, die ihre Kinder jedes Wochenende dorthin brachten, damit sie verschiedene künstlerische Fertigkeiten erlernten. Weitere rund zweitausend Bücher stiftete ich den Ehefrauen von freiwilligen Soldaten aus Armutsgebieten, von denen viele nicht lesen und schreiben konnten. Die Bücher sollten als Grundstock einer Bildungsbibliothek für Erwachsene dienen. Fast zweitausend illustrierte Bände über China, Geschichte und Leben in anderen Ländern sowie Unmengen von Kinderbüchern gingen an die Wanderarbeiterinnen, die in den Stadtrandbezirken auf engstem Raum zusammenlebten. Ihre Kinder waren die Ersten in der Familie, die in einem städtischen Umfeld aufwuchsen, aber sie hatten noch nie an irgendwelchen kulturellen Aktivitäten teilgenommen. Ich hoffte, diesen zukünftigen Eltern mit meinen Büchern einen Bildungszugang zu ermöglichen.
    Noch immer blieben zweihundert Bücher übrig, die ich aber auf keinen Fall in meine neue Heimat mitnehmen konnte. Ich lagerte sie im Büro einer guten Freundin ein, wo sie der Welt verkündeten, wie kultiviert sie doch war. Schließlich fanden etwa ein Dutzend Bücher, von denen ich mich beim besten Willen nicht trennen konnte, den Weg in meinen Koffer.
    Meine Liebe zu Steinen – und damit eine sonderbare Sammlung, die sich vom reinen Hobby zu etwas entwickelte, das sehr viel größere Bedeutung für mich hatte – ging auf eine Reise zurück, die ich Ende der 1980 er Jahre unternahm. Ich war in ein kleines Bergdorf bei Yulin in der Provinz Shaanxi gefahren, um eine Frau zu interviewen, die so etwas wie eine lokale Legende war. Sie hatte ein tief zerfurchtes Gesicht und rauhe Hände mit deformierten Fingern, in ihre Haut hatte sich der Schmutz von Jahrzehnten eingegraben, und sie roch nach Rauch. Zwischendurch wischte
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