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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter
Autoren: Xinran
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Emotionen in mir; er war schwebend, traumartig und doch eindringlich und von aufrüttelnder Wucht. Ihre herrliche Musik nahm mich mit auf eine Entdeckungsreise in alle Winkel dieser Welt, eine Reise, die bis heute anhält.
     
    Als ich Enya in meiner Sendung das erste Mal spielte, wählte ich
Evening Falls, Orinoco Flow
und
Na Laetha Geal M’Óige
aus ihrem Album
Watermark
als Hintergrundmusik für die Briefe von Hörerinnen. Einer war von einer jungen Frau, die sich
Waiter
nannte. Das alles ist viele Jahre her, aber in meiner Erinnerung ist es frisch wie damals, und jedes Mal, wenn ich Enyas
Evening Falls
höre, muss ich daran denken.
    »Liebe Xinran …« Sie war die erste meiner Hörerinnen, die mich so ansprach, überhaupt die erste in meinen gesamten vierzig Jahren in China. Obwohl auch ich Englisch studiert hatte, verblüffte mich ihr kühner Gebrauch dieser verwestlichten Anredeform. Dazu müssen Sie wissen, dass es, abgesehen von ganz wenigen Fremdsprachenstudenten in Großstädten wie Beijing und Shanghai, niemand gewagt hätte oder auch nur im Traum daran gedacht hätte, jemanden – selbst ein Familienmitglied – mit »liebe/r« anzusprechen, weil diese Anrede gleich zu Beginn der Kulturrevolution als »bourgeoise Sentimentalität« gebrandmarkt worden war. Als ich mit
Worte im Abendwind
auf Sendung ging, verwendete jedenfalls keine der Frauen, die mir tagtäglich schrieben, die Anrede »liebe«. Meistens begannen die Briefe mit »Genossin Xinran« oder irgendeiner anderen respektvollen Formulierung im sowjetischen Stil.
    Es folgte ein langer Erguss von zwanzig oder mehr Seiten, in denen sie ihre Geschichte wie folgt erzählte:
     
    Liebe Xinran,
    zunächst einmal danke für Ihre Sendung
Worte im Abendwind,
auf die ich jeden Tag warte und die meinen Kopf immer wieder mit Gedanken füllt.
    Wie oft und auf welch vielfältige Weise haben Sie Ihre Hörerinnen nicht schon ermahnt, wegen etwas, das in der Vergangenheit liegt, keine Höllenqualen mehr zu erleiden! Sie sagen, wir sollten an jedem neuen Tag die Saat der Möglichkeiten für die Zukunft suchen, wir sollten in unseren Gedanken einen Ort der Stille einrichten, um ihn mit Zukunftsplänen zu füllen, damit unser Leben nicht in der Vergangenheit, die tot und begraben ist, verhaftet bleibt, und wir sollten unsere Fähigkeiten nutzen, um eine bessere Zukunft für uns zu gestalten.
    Ich weiß, Sie meinen es gut – Sie möchten nicht, dass rechtschaffene Menschen heute ihr Leben wegwerfen, weil sie Schmerzen erduldet haben oder unter Schuldgefühlen leiden oder Fehler gemacht haben. Obwohl Sie den Ausdruck »Höllenqualen erleiden« verwendet haben, frage ich mich, ob Sie wirklich wissen, was es heißt, Höllenqualen zu erleiden. Glauben Sie wirklich, Menschen können sich so einfach von ihrer Vergangenheit lösen, wie sie aus einer alten Wohnung ausziehen?
    Ich möchte Ihnen die wahre Geschichte eines Menschen erzählen, der wirklich Höllenqualen erlitten hat.
    Es ist die Geschichte einer ganzen Generation von jungen chinesischen Studentinnen und einer Jugend, die bereits verlorengegangen war, ehe sie richtig genossen werden konnte. Ihr bitterer Nachgeschmack wird Sie lange nicht loslassen.
    Waiter ist fünfundzwanzig und seit zwei Jahren mit ihrem Freund zusammen. Er hat ihr einen Heiratsantrag gemacht, aber sie traut sich nicht, ihn anzunehmen. Sie hat zu viel Angst vor der vorehelichen gynäkologischen Untersuchung oder auch davor, ihrem Freund die Wahrheit über ihre Vergangenheit zu erzählen. (In der einen oder anderen Form war die Überprüfung, ob das Hymen intakt ist, von alters her ein vorehelicher Test, den jede Frau über sich ergehen lassen musste. Diese uralte Sitte blieb selbst im Neuen China nach der Befreiung in allen Gesellschaftsschichten erhalten und starb erst mit den Reformen der 1990 er Jahre endlich aus.) Sie wagt kaum zu hoffen, dass sie eines Tages Mutter oder gar Großmutter sein wird, und sie fürchtet sogar, der Mann, den sie liebt, könnte es hören, wenn sie im Schlaf weint. Denn diese Frau hat nicht einfach nur ihre Jungfräulichkeit verloren, sie hat ein Kind bekommen.
    Fünf Jahre zuvor erhielt Waiter in der Fremdsprachenabteilung einer Fachhochschule für Telekommunikation einen Studienplatz für westliche Sprachen und Kultur. Die Fachhochschule war in der Provinzhauptstadt, fern von ihrem Heimatort, und so verließ Waiter ihr Zuhause, um zu studieren. Ihre Eltern hatten sie streng erzogen, aber jetzt konnte sie tun
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