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Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Titel: Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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es von seinen Nachkommen in Beschlag genommen worden, doch diese Generation hatte es aufgeteilt und vermietet – die beiden oberen Etagen beherbergten nach wie vor Wohnräume, während das Erdgeschoss zur Hälfte in gewerbliche Nutzfläche umgewandelt worden war. Das Haus stach durch eine ausladende Granittreppe, eine breite Veranda mit weißem Geländer an der Frontseite und eine rote Eingangstür ins Auge.
    Sobald Besucher über die Türschwelle traten, befanden sie sich in der kleinen, allen Bewohnern zugänglichen Eingangshalle. Hier hing noch der ursprüngliche Kandelaber aus der Zeit des Captain Neill über der Treppe. Lily Malone, die Mieterin einer der beiden Geschäftsräume im Erdgeschoss, hatte versucht, diese zentrale Eingangshalle durch von ihr und anderen Frauen aus dem Ort in Handarbeit gefertigte Wandteppiche in Petit-Point-Stickerei einladender zu gestalten. Außerdem hingen einige Kinderzeichnungen ihrer Tochter Rose an den Wänden.
    Lily Malone saß im hinteren Teil ihres Ladens und packte die letzten kleinen Aufmerksamkeiten für die Gäste der Geburtstagsparty ein. Unter ihrem Arbeitstisch waren sechzehn rosafarbene Papiertüten aufgereiht, verborgen vor den Blicken für den Fall, dass eine der Empfängerinnen hereingeplatzt käme. Bis jetzt hatte sie fünf Kundinnen gehabt, drei davon Nanouks – Angehörige von Lilys Frauenclub, in dem man gemeinsam stickte, Spaß hatte und sich gegenseitig den Rücken stärkte. Sie hatte außerdem zwei Lieferungen Näh- und Stickgarn erhalten, einschließlich der begehrten französisch-persischen Woll-Seide-Mischung, ein absolutes Muss für Liebhaber, in wunderbar satten Farbnuancen, die von ›Morgenklee‹ bis ›Hochplateau bei Sonnenuntergang‹ reichten.
    Ihr Handarbeitsladen, das In Stitches, hatte zwei große Schaufenster, die auf den Kai, die Walbeobachtungsboote und den Hafen von Cape Hawk hinausgingen. Sie hatte sich auf Nadelarbeiten spezialisiert, und die Garne für Kreuz- und Petit-Point-Stickereien, die sie führte, standen der bunten Vielfalt eines Gartens in nichts nach: Da gab es Baumwolle, Seide, Woll-Seiden-Gemische, französische Wolle, persische Wolle und Metallic-Fasern. Die Farbpalette war vielfältig und märchenhaft – sie hatte allein zweiundzwanzig Rosaschattierungen im Sortiment: Muschelrosa, Sandrosa, Bonbonrosa, Abendrosa, Geranienrosa, Altrosa, Williamsbirnen-Rosa und viele mehr.
    Auf der symbolischen Ebene behagte ihr der Gedanke, Dinge zusammenzufügen, Stich für Stich ein kleines Kunstwerk zu schaffen. Auf der praktischen Ebene verdiente sie damit ihr täglich Brot. Dieser wundervolle Ort, an dem sie sich wohl fühlte, war entlegen und befand sich sozusagen in der Mitte von nirgendwo. Die Frauen aus der ganzen Umgebung pilgerten in ihren Laden. Manche gaben Geld aus, das sie gar nicht hatten. Lily räumte ihnen beim Kauf von Gitterleinen und Garn Kredit ein; die Schulden kassierte sie mit Zins und Zinseszins in Form von kostenlosem Kinderhüten und hausgemachten Aufläufen.
    Das Hotel kurbelte das Geschäft ebenfalls an – zumindest in den Sommermonaten. Lily blickte zum Fenster hinaus, den Hügel empor. Das ausladende, dreistöckige, weiße Gebäude glänzte in der Sonne wie die Zinnen einer Festung im Hohen Norden. Das Dach war leuchtend rot, von einer verzierten Kuppel mit dem eingravierten Namenszug CAPE HAWK INN gekrönt. Zwei weitläufige Flügel umschlossen tadellos gepflegte Gartenanlagen mit Rosen, Zinnien, Ringelblumen, Rittersporn und Stockrosen. Camille Neill hatte einen grünen Daumen – das musste man ihr lassen.
    In ebendiesem Moment rumpelte der Schulbus den Kai entlang. Lily schob die Spitzengardine zur Seite und sah, wie die letzten Kinder ausstiegen. Sie verspürte einen vagen, beinahe unmerklichen Anflug von Erleichterung: Der Bus war das Zeichen, dass Rose wohlbehalten nach Hause gekommen war. Natürlich war das albern, das wusste sie. Rose war fast neun, aufgeweckt und selbstbewusst, und sie erinnerte ihre Mutter stets aufs Neue daran, dass sie sehr gut alleine auf sich aufpassen konnte.
    Plötzlich ging die Tür auf, und zwei Frauen traten ein. Es waren Stammkundinnen, Nanouks. Marlena wohnte im Ort, während Cindy aus dem vierzig Meilen entfernten Bristol kam. Lily winkte ihnen zu und lächelte.
    »Hallo, Cindy, hallo, Marlena. Wie geht’s?«
    »Prima, Lily«, sagte Cindy. »Ich habe gerade das letzte Sitzkissen für meine Esszimmerstühle fertig gestickt und brenne darauf, endlich etwas
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