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Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Titel: Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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Gezeitentabellen statt nach den Schichten und Dienstplänen des Dezernats zu richten. Patrick Murphy hatte die kleine Gezeitentabelle des Hartford Courant an den Kartentisch geheftet, aber er zog sie nur noch selten zu Rate. Er hätte schwören mögen, dass sich sein Körper in Einklang mit Ebbe und Flut in der Silver Bay befand – er holte ihn zu den verrücktesten Zeiten aus dem Bett, mitten in der Nacht, wenn Niedrigwasser herrschte und der Gezeitenstrom nicht so stark war, die beste Zeit, um an den Riffen und Sandbänken rund um das Stone-Mill-Kraftwerk zu angeln.
    Die Streifenfische an der Küste von Connecticut hatten keine Chance. Schon seit zwei Jahren, sieben Monaten, drei Wochen und vierzehn Tagen zogen sie den Kürzeren, seit er mit dreiundvierzig in den Ruhestand gegangen war. So war das nun mal im Leben. Im wirklichen Leben, sagte er sich. Er hatte zwar das Haus verloren, aber er besaß noch sein Boot und seinen Truck. Dafür schufteten die meisten Leute ein Leben lang: um sich im Alter an einen idyllischen Strand zurückziehen und tagaus, tagein angeln zu können.
    Er dachte an Sandra und an das, was ihr gefehlt hatte. Sie hatten Träume auf ihrer Liste gehabt, die sie nach seinem Ausscheiden aus der Connecticut State Police gemeinsam verwirklichen wollten: Strandspaziergänge, jedes neue Restaurant in der Umgebung ausprobieren, ins Kino gehen, die Spielcasinos unsicher machen, mit dem Boot Ausflüge nach Block Island und Martha’s Vineyard unternehmen. Sie waren schließlich noch jung – konnten es richtig krachen lassen.
    Es krachen lassen, dachte er – statt der guten Zeiten, von denen er geträumt hatte, kam ihm bei dieser Phrase nur noch seine Scheidung in den Sinn. Sie war schrecklich gewesen, hinterließ verheerende Schäden durch die mörderischen Geschütze, die ihre beiden Anwälte auffuhren, um aus dem Paar, das sie einst waren, einen Scherbenhaufen zu machen.
    Das Angeln half. Genau wie Baseball. Die Yankees hatten ihre Pechsträhne überwunden und gewannen ein Spiel nach dem anderen. An vielen Abenden führte sich Patrick beides zu Gemüte und schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Er angelte und ließ sich mitreißen, wenn John Sterling und Charlie Steiner ein Spiel moderierten. Er konnte die Yanks anfeuern, ihren Siegeszug fortzusetzen, und gleichzeitig überprüfen, ob die Streifenfische anbissen, während sein Boot mit der Strömung nach Osten trieb.
    Es gab noch ein paar Dinge, die ihm keine Ruhe ließen. Träume, die mit dunklen Tentakeln nach ihm griffen, von Straftätern, die sich immer noch auf freiem Fuß befanden, obwohl er sich im Wachzustand die größte Mühe gegeben hatte, sie hinter Schloss und Riegel zu bringen. Eine spurlos verschwundene Frau, Horrorvisionen, Attacken und Ängste verfolgten ihn, die einen Menschen bis ins Mark erschütterten und dem altertümlichen Begriff der Nachtmahr neue Bedeutung verliehen. Wenn Patrick mit klopfendem Herzen aus diesen Alpträumen aufschreckte, dachte er unwillkürlich daran, wie groß das Grauen für sie gewesen sein mochte.
    Ob sie nun ermordet worden war, seit Jahren tot und irgendwo verscharrt, oder ob irgendwelche Vorkommnisse sie dazu gebracht hatten, das Haus und den Rosengarten ihrer Großmutter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu verlassen, um an einem so entlegenen Ort ein neues Leben zu beginnen, dass niemand sie je wieder zu Gesicht bekam: Sie hatte mit Sicherheit panische Angst gehabt.
    Das war es, was ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.
    Nur, was hatte Mara Jameson in Panik versetzt? Noch heute entzündete sich seine Phantasie an dieser Frage und ging mit ihm durch. Der Vorgang war neun Jahre alt, lag zuoberst auf dem Stapel ungelöster Fälle. Der Papierkram, der damit verbunden war, hatte ihn wie ein Albatros auf Schritt und Tritt begleitet. Der Fall hatte sich als Sisyphusarbeit entpuppt, als Felsblock, den er immer wieder den Berg hinaufwälzen musste – sogar dann noch, als abzusehen war, dass seine Ehe daran zerbrechen würde, und die düstere Prognose sich schließlich bewahrheitete, sogar heute noch, nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst.
    Maras Foto. Es stand auf seinem Schreibtisch. Früher hatte er es auf dem Nachttisch neben seinem Bett aufgestellt – es sollte ihn stets daran erinnern, welche Aufgabe unmittelbar nach dem Aufstehen auf ihn wartete. Die Suche nach der schönen jungen Frau mit den strahlenden Augen und dem herzzerreißenden Lächeln. Inzwischen brauchte er das Bild nicht mehr.
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