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Wolfsmale

Titel: Wolfsmale
Autoren: Ian Rankin
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verschmiertes Blut.
Rebus schob die Tür auf und betrat den Raum. Neben jenem Gemälde hing eines von der Jungfrau
Maria, deren Kopf, beziehungsweise das, was davon übrig war, von Sternen umgeben war. In ihrem
Gesicht klaffte ein großes Loch. Die Gestalt unter den Bildern war reglos und still. Rebus ging
langsam weiter in den Raum. Er warf einen Blick nach links und sah auf der Wand, die sich
gegenüber von Chambers befand, mehrere Porträts von unglücklich aussehenden Adligen. Sie hatten
allen Grund, unglücklich zu sein. In jeder Leinwand waren Schlitze, die ihre Köpfe fast vom
Körper trennten. Er war jetzt ziemlich nah und konnte erkennen, dass das Gemälde neben Malcolm
Chambers ein Velázquez war, »Die unbefleckte Empfängnis«. Rebus lächelte wieder. Unbefleckt, weiß
Gott.
Und dann fuhr Malcolm Chambers' Kopf nach oben. Die Augen waren kalt, das Gesicht lädiert von der
Windschutzscheibe des BMW. Als er sprach, war seine Stimme dumpf und müde.
»Inspector Rebus.«
Rebus nickte, obwohl es keine Frage gewesen war.
»Ich frag mich«, sagte Chambers, »warum meine Mutter nie mit mir hierher gegangen ist. Ich kann
mich nicht erinnern, dass man je mit mir irgendwo hingegangen ist, außer vielleicht zu Madame
Tussaud's. Waren Sie mal bei Madame Tussaud's, Inspector Rebus? Ich mag am liebsten die
Schreckenskammer. Doch meine Mutter wollte da nicht mit reinkommen.«
Er lehnte sich lachend gegen die Absperrstange hinter sich, bereit, sich jeden Augenblick daran
hochzudrücken. »Ich hätte diese Bilder nicht zerreißen dürfen, nicht wahr?«, sagte er. »Sie waren
vermutlich von unschätzbarem Wert. Eigentlich albern. Sind ja schließlich nur Bilder. Warum
sollten Bilder von unschätzbarem Wert sein?«
Rebus hatte eine Hand ausgestreckt, um ihm hochzuhelfen. Gleichzeitig fiel sein Blick wieder auf
die Porträts. Aufgeschlitzt. Nicht zerrissen, aufgeschlitzt. Wie der Arm des Wächters. Nicht von
einer menschlichen Hand, sondern mit Hilfe eines Instruments.
Zu spät. Das kleine Küchenmesser in Chambers' Hand drang bereits durch Rebus' Hemd. Chambers war
aufgesprungen und drängte Rebus rückwärts auf die Porträts an der gegenüberliegenden Wand zu. Der
Wahnsinn verlieh Chambers Kraft. Rebus spürte, wie sein Fuß an der Absperrstange hinter ihm
hängen blieb; sein Kopf fiel nach hinten gegen ein Bild, knallte dumpf gegen die Wand. Mit der
rechten Hand hatte er jetzt die Hand umklammert, in der Chambers das Messer hielt, sodass sich
die Messerspitze zwar immer noch in seinen Bauch bohrte, aber nicht tiefer eindringen konnte. Er
stieß Chambers ein Knie in den Unterleib und schlug ihm den linken Handballen gegen die Nase. Ein
Aufschrei war zu hören, gleichzeitig ließ der Druck auf dem Messer nach. Rebus drehte
Chambers'
Handgelenk und versuchte, das Messer loszuschütteln, doch Chambers ließ nicht locker.
Beide wieder aufrecht, rangen nun ein Stück von der Wand entfernt um das Messer. Chambers stieß
ein lautes Geheul aus. Bei dem Geräusch lief es Rebus eiskalt den Rücken herunter, selbst während
er sich mit dem Mann herumschlug. Es war, als kämpfte er mit den dunklen Mächten
persönlich.
Unangenehme Gedanken rasten durch seinen Kopf: überfüllte U-Bahn-Züge, Kinderschänder, Bettler,
ausdruckslose Gesichter, Punks und Zuhälter. Wie eine riesige Welle brach alles, was er in London
gesehen und erlebt hatte, mit einem Mal über ihn herein. Er wagte nicht, Chambers ins Gesicht zu
sehen, aus Angst, er würde erstarren. Die Gemälde um ihn herum verschwammen zu blauen, schwarzen
und grauen Farbflecken, während er diesen Danse macabre tanzte und dabei spürte, wie Chambers
immer stärker und er immer müder wurde. Müde und schwindlig, der Raum drehte sich um ihn, während
ihn - von dem Loch in seinem Bauch ausgehend - eine ungeheure Lethargie befiel.
Jetzt bewegt sich das Messer, bewegt sich mit neu gefundener Kraft, einer Kraft, der Rebus nichts
entgegenzusetzen vermag außer einer Grimasse. Er zwingt sich, Chambers anzusehen. Tut es und
sieht Augen, die ihn anstarren wie die eines Stiers, den trotzig verzogenen Mund, das
vorgeschobene Kinn. Da steckt mehr als Trotz dahinter, mehr als Wahnsinn, das ist geballte
Entschlossenheit. Rebus spürt sie, während sich die Hand mit dem Messer dreht. Sich um
hundertachtzig Grad dreht. Und dann wird er wieder rückwärts gestoßen. Chambers scheint immer
größer zu werden, treibt ihn mit der Kraft eines Roboters vor sich
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