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Wolf Shadow Bd. 8 - Tödlicher Zauber

Wolf Shadow Bd. 8 - Tödlicher Zauber

Titel: Wolf Shadow Bd. 8 - Tödlicher Zauber
Autoren: Eileen Wilks
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1
    Als sie den Geist sah, befand sich Lily Yu gerade auf dem Schießstand der FBI -Zentrale.
    Der Ohrenschutz hielt ihre Ohren warm, doch an den nackten Armen war ihr kalt. Den linken Arm hielt sie gerade ausgestreckt und ruhig, der rechte tat weh und zitterte. Mit ihm hatte sie gerade einige Schüsse abgegeben, bevor sie die Hand gewechselt hatte. Das war dumm gewesen. Wenn sie mit der Linken angefangen hätte, würde ihr der immer noch geschwächte Arm jetzt nicht so zusetzen. Denn um die neue Glock auf Höhe ihres Führungsauges zu bringen, musste sie den rechten Arm auf eine Weise drehen, die den verletzten Bizeps protestieren ließ.
    Und er protestierte oft. Der Oberarmknochen war zwar wieder verheilt, und die Eintrittswunde hatte sich glatt geschlossen, aber die Austrittswunde war größer, unebener und rau. Einmal zerstörte Muskelmasse wuchs nicht wieder nach.
    Doch bei Lily machte sie eine Ausnahme. Ihre Muskelmasse kam wieder, wenngleich langsam.
    Leichter Schwefelgeruch lag in der Luft. Durch den Gehörschutz hörte sie dumpf die Schüsse, die ihr Nachbar auf der anderen Seite der Trennwand in regelmäßigen Abständen abfeuerte. Sie spürte das Kitzeln von Fell und Kiefernadeln im Bauch – der Grund, warum der zertrümmerte Knochen so schnell wieder zusammengewachsen war und ihr Muskel sich nach und nach regenerierte, obgleich dies eigentlich unmöglich war – und hatte das Gefühl, aufstoßen zu müssen.
    Fünfzehn Meter vor ihr zog etwas Andersartiges wie ein Schleier über ihre durchlöcherte Zielscheibe.
    Es war weiß. Vielleicht dachte sie deswegen sofort an einen Geist. Milchig, aber nicht durchsichtig, schwebte das Gebilde wie dreidimensionales Reispapier auf einer Diagonalen durch ihr Sichtfeld. Rauch war es nicht, dazu waren die Ränder zu klar umrissen. Die Form erinnerte an die eines Menschen, aber es hatte kein Gesicht. Auch als es wie auf einem steten Luftzug näher wehte, war es nicht deutlich zu erkennen – vier Glieder und ein Rumpf mit menschlichen Proportionen, die Einzelheiten verschwommen wie eine verwischte Kreidezeichnung.
    Es kam direkt auf sie zu. Furcht ließ Lilys Rücken erstarren und ihre Augen weit werden.
    Im Näherkommen streckte das gesichtslose Etwas seine Hand aus – ja, es war eindeutig eine Hand. Während der Rest der Gestalt undeutlich blieb, war diese Hand überaus plastisch, als hätte ein Künstler jedes noch so winzige Detail vom Daumenballen über die Handlinien bis hin zu den Fältchen an den Knöcheln herausgearbeitet. Am vierten Finger dieser Hand steckte ein Ring.
    Ein goldener Ring. An der linken Hand, die mit der Handfläche nach oben zeigte. Flehend.
    Lilys Herz raste und schmerzte, so heftig wurde sie von Mitleid gepackt.
    Die milchige Gestalt verweilte kurz in ihrem Schweben. Dann, als sei sie schließlich doch nichts anderes als Rauch, wurde sie von einem Windhauch zerstreut und war verschwunden.

2
    Amerika war keine klassenlose Gesellschaft.
    Die gab es natürlich nirgendwo. Nirgendwo, wo auch Menschen wohnten. Menschen dachten ebenso hierarchisch wie Werwölfe, fand Lily. Sie gaben es nur nicht zu. Offiziell waren die Vereinigten Staaten eine Leistungsgesellschaft: Wer Talent hatte, sich anstrengte oder Außergewöhnliches leistete, schaffte es, so hieß es, bis ganz nach oben.
    Möglicherweise stimmte das auch, wenn man davon ausging, dass Geld gleich Kompetenz war. Doch dieser Meinung war Lily nicht. Denn diese hübsche Metrik ließ eine weitere Komponente unberücksichtigt, die die Klassenzugehörigkeit mitbestimmte: Schönheit. Eine Frau, die über beides verfügte, dachte sie, als sie den Reißverschluss ihrer Jeans zuzog, wirkte möglicherweise kalt, weil sie sich isoliert fühlte und anderen Frauen mit Argwohn begegnete. Oder sie war eine hochnäsige Zicke.
    Eventuell würde sie heute herausfinden, was von beidem auf die Frau ihres Chefs zutraf. Nach ihrer einzigen Begegnung im letzten Frühjahr neigte Lily dazu, sie für eine Zicke zu halten, doch es war nur ein sehr kurzes Zusammentreffen gewesen. Vielleicht lag sie ja falsch. Schließlich hatte Ruben sich für Deborah entschieden und war bei ihr geblieben. Außerdem war sie Lehrerin in der siebten Klasse, also …
    »Bist du sicher, dass es ein Geist war?«
    »Natürlich nicht.« Für einen Moment sah Lily rot – das Rot des Stretchpullis, den sie sich gerade über den Kopf zog. Dann sah sie wieder die grauen Wände und das helle Holz des Schlafzimmers und den Mann, mit dem sie dieses
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