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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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instand setzen lassen sollten. Ich wollte zeigen, dass in dieser Gegend der Vernachlässigung wenigstens hin und wieder einer sich kümmerte. Ich spürte, dass wir uns nicht um die eine Linie der Familie annehmen sollten und um die andere nicht. Doch ein Jahr später, als ich mich entscheiden musste, welche Gräber ich besuchen sollte, hatte ich immer noch nichts unternommen. Meine Loyalität gegenüber Anne und meine Anhänglichkeit an Gretl ließen mich nun nach Hietzing fahren.
    Zum letzten Mal war ich im Jahr davor dort gewesen, an einem späten Novembernachmittag, als es schon dämmerte. Während ich damals durch den Friedhof schritt, war ich erfreut, wie Anne 1971, dass ich das Grab so leicht fand. Als ich darauf zuging, sah ich zwei flackernde rote Lämpchen. Bruce, der sich ebenfalls gerade in Wien aufhielt, war nicht nur am Nachmittag dagewesen, sondern hatte auch die zwei gläsernen Kerzenhalter links und rechts vom Grabstein repariert und zum ersten Mal seit beinahe siebzig Jahren dafür Kerzen gekauft. Obwohl ich allein dort war, bildeten die Kerzen eine Verbindung zwischen uns, ein Symbol, das er für Moriz, Hermine, Gretl, Kathe und Lene hinterlassen hatte und das nun auch eines für mich wurde. In der trüben Dämmerung wirkte es wunderbar tröstlich.
    Als ich nun wiederkam, wollte ich eigentlich dasselbe tun wie Bruce, kämpfte aber mit mir selbst und entschied mich stattdessen, am Abend auf dem Weg zur Synagoge im Stephansdom Kerzen anzuzünden. Da ich zu früh dran war, ging ich kurz ins Jüdische Museum, um mir die Mahler-Ausstellung anzusehen, während mir eine Aufnahme von Mahler, der seine eigene Klaviertranskription des ersten Satzes der Fünften Symphonie spielte, in den Ohren klang. Ich ging zum Dom, tauchte meine Finger ins Weihwasserbecken, wie ich es bei meinem ersten Aufenthalt in Europa gelernt hatte, bekreuzigte mich, kaufte die Kerzen und saß davor, ohne zu beten.
    Dann ging ich weiter zur Synagoge, wo aus Sicherheitsgründen an jedem Ende der Straße immer ein Polizist stand. Ich erwartete, dass ich wie üblich meinen Pass zeigen und durch einen Metalldetektor gehen müsse, bevor ich eintreten durfte. An diesem Abend standen mehr Polizisten da als sonst, falls es jemand auf die Menge abgesehen hatte, die außen auf der kopfsteingepflasterten Gasse stand. Die Befragung durch die Sicherheitsbeamten der Synagoge war zudem außergewöhnlich streng. Wie hatte ich von dem Konzert erfahren? Wen kannte ich in der jüdischen Gemeinde? Warum war ich hier?
    Ich hätte eine Unterhaltung anfangen können, während ich auf der Straße wartete oder in der Synagoge saß. Ich hätte meine Verbindung zum Stadttempel und zu dieser Feier erklären können. Ich hätte herausfinden können, warum die neben mir Stehenden hier waren. Ich saß in der Synagoge und blickte zur blauen, mit goldenen Sternen gesprenkelten Decke empor. Ich musste mein ganzes Deutsch bemühen, um Reden zu verstehen, die sich mit den jüngsten Entwicklungen bei den Restitutionszahlungen durch die österreichische Regierung befassten. Ich hörte den Kantoren zu und fragte mich, ob es, wie Wagner gemeint hatte, eine typisch jüdische Stimme gebe. Ich verspürte kein Gemeinschaftsgefühl, aber ich war froh, dass ich mich statt der Oper für die Synagoge entschieden hatte.
    In der Pause war alles anders. Man musste nicht mehr durch Metalldetektoren gehen, im Gegenteil; die Türen zur Gasse hin standen nun offen, sodass Leute aus der Menge nach draußen konnten, um zu rauchen, so wie sie es in der Oper getan hätten. Dass es keine Kontrollen mehr gab, ließ die Sicherheitsmaßnahmen vor dem Konzert nun zwar lächerlich erscheinen, doch es war eine Erleichterung zu sehen, dass die Gemeindemitglieder keine Angst erkennen ließen; sie benahmen sich wie alle anderen auch und genossen eine Freiheit, wie sie dem sechzigsten Jahrestag der Befreiung angemessen war.
    Ich hätte leicht zu Fuß quer durch die Stadt zurück in mein Hotel in der Schleifmühlgasse gehen können, das nur ein paar Häuserblocks entfernt vom alten Gaslichtgeschäft lag. Stattdessen nahm ich die Straßenbahn um den Ring, um die Stadt bei Nacht einmal anders zu sehen. Nachdem wir das Rathaus passiert hatten, das wie immer zu dieser Jahreszeit in einen riesigen Adventkalender verwandelt worden war, stieg ich bei der Oper aus, um an der Secession vorbei in die Schleifmühlgasse zu gehen. Ich fragte mich, wie Hermine, Gretl und Anne meinen Tag wohl gefunden hätten. Ich
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