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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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hören bekommen und zum ersten Mal, außer zu einer touristischen Besichtigung, in die Synagoge gehen, wo über 110 Jahre zuvor Moriz und Hermine geheiratet hatten. Es würde eine Gelegenheit sein, mich an der Erinnerung an die Zerstörung und an der Feier zu beteiligen, dass die Wiener jüdische Gemeinde überlebt hatte. Ich entschied mich für die Synagoge.
    Die Woche verging wie im Flug. Ich sah »Das neue Österreich«, eine Ausstellung im Belvedere anlässlich des weit populäreren fünfzigsten Jahrestages der »Befreiung von den Besatzern« 1955, als Soldaten der USA, der UdSSR, Frankreichs und Großbritanniens das Land verlassen hatten. Ich besuchte das Leopold Museum, wo ich merkte, dass Leopold, was sonst, nur die Hälfte der Bilder behalten hatte, die er von Anne erworben hatte, und wünschte mir – weil er sie so manipulativ behandelt und weil er Schieles »Bildnis Wally« gekauft hatte, obwohl er gewusst hatte, dass es Beutekunst war –, diese Hälfte möge woanders hängen. Ich ging in die Wohllebengasse, wo ich sah, dass die Wiener Immobilienfirma, die das Haus von der russischen Versicherungsgesellschaft gekauft hatte, die Innenräume ausgeweidet und die meisten Hoffmann-Details zerstört hatte. Nachdem ich mit Anne so viele Besuche in Wien unternommen hatte, ohne mit Wienern zu reden, traf ich jetzt Historiker, Kuratoren, Kunsthändler und Journalisten.
    Das Kantorenkonzert fand am 8. Dezember statt, dem Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, einem offiziellen Feiertag in Österreich. Das bedeutete zwar, dass die Bibliotheken und Archive alle geschlossen waren, aber ich hatte trotzdem viel zu tun, denn es war mein letzter Tag vor der Rückkehr nach Australien. Ausnahmsweise gab ich dem Einkaufen von Geschenken den Vorzug. Den Vormittag verbrachte ich auf den Christkindlmärkten am Spittelberg im siebten Bezirk und vor dem Rathaus an der Ringstraße und fand allerhand schöne Sachen. Dann musste ich mich entscheiden, welche Gräber ich besuchen wollte.
    Das Hoffmann-Grab von Henny Hamburger auf dem Grinzinger Friedhof war verschwunden, die Friedhofsverwaltung hatte es aufgelassen, um neuen Grabstätten Platz zu machen. Blieben immer noch das gemeinschaftliche Grab von Moriz, Hermine, Gretl, Kathe und Lene auf dem Hietzinger Friedhof und jene der Herschmanns, Bonyhadys sowie das von Wilhelm und Eugenia Gallia auf dem Zentralfriedhof. Bei meiner Ankunft in Wien hatte ich vorgehabt, an einem Tag einen Friedhof aufzusuchen und den anderen einen Tag oder zwei später. Doch ich hob mir die Friedhöfe bis zuletzt auf, wie Anne es getan hatte, und dann blieb nur noch Zeit für einen. Ich konnte zwischen Katholiken und Juden wählen, zwischen Verwandten, die immer zu meinem Leben gehört hatten, und Verwandten, die ich erst durch das Schreiben kennengelernt hatte.
    Ich wusste, dass die Juden Besuche besonders nötig hatten. Als ich erstmals in Wien war, um an diesem Buch zu arbeiten, und einem Bekannten erzählte, ich würde den Zentralfriedhof aufsuchen, meinte er, die alte jüdische Abteilung sei sehr romantisch, ein Ort für Wildtiere. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, bis ich einige Tage später hinging. Als ich ein beinahe aufgegebenes Gelände vorfand, ein Reich überwucherter, eingesunkener Gräber, umgestürzter Grabsteine und überwachsener Pfade, war mir klar, warum man einen solchen Ort romantisch nennen konnte. Was das mit den Wildtieren bedeuten sollte, wusste ich noch nicht, bis ich aufblickte und für einen Moment in einiger Entfernung zwei Hirsche mit enormem Geweih sah, die sich in der Wildnis ganz zuhause fühlten.
    Der Kontrast zur angrenzenden christlichen Abteilung des Zentralfriedhofs machte auf schreckliche Weise die Vernichtung der jüdischen Gemeinde, die sich sonst um ihre Gräber gekümmert hätte, anschaulich; eine schwere Anklage gegen die österreichische Regierung und die Stadt Wien, die keine Verantwortung für diese Aufgabe übernommen hatten, während die deutsche Regierung das bereits in den 1950er Jahren getan hatte. Doch auch der Kontrast zwischen dem Herschmann-Grab auf dem Zentralfriedhof und dem Gallia-Grab in Hietzing bedrückte mich. Das Herschmann-Grab war jahrzehntelang vernachlässigt worden, das Gallia-Grab hingegen in vorbildlichem Zustand, da Bruce und ich weiterhin für die Grabpflege zahlten, wie Anne es begonnen hatte. Nachdem ich erstmals auf dem Zentralfriedhof gewesen war, war meine sofortige Reaktion, dass Bruce und ich das Herschmann-Grab
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