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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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die die Nazis ebenfalls umgebracht hatten, geschehen war. Stattdessen ließen sie ihre Kinder in dem Glauben, sie hätten keine Ahnung, was aus den älteren Hamburgers und Schauers geworden war. Falls Guido junior und Anna überhaupt über sie redeten, dann so, als wären alle vier Großeltern einfach im Kriegschaos verschwunden. Wie Madeleine Albright nahmen die Kinder von Guido junior und Anna die Geschichte ihrer Eltern jahrelang einfach hin, obwohl sie, anders als Albright, sie schließlich hinterfragten und herausfanden, wie ihre Großeltern umgekommen waren.
    Friedrich Hamburgers Tochter Jana hatte nicht einmal realisiert, wo sie gewesen war. Da sie erst drei Jahre alt war, als das Lager befreit wurde, wuchs sie ohne Erinnerung daran auf, und ihre Eltern verloren kein Wort darüber, ebenso wenig wie der Vater ihrer Mutter, ebenfalls ein Überlebender des Lagers. Sie hatte zwar ein hölzernes Puppenbettchen, das ihr Großvater geschnitzt hatte, darauf stand Terezín, der tschechische Name für Theresienstadt, aber sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Ihre Eltern erzogen Jana als Katholikin und sagten ihr nie etwas von ihrer jüdischen Herkunft. Sie fand das erst heraus, als eine Ausstellung von Kinderzeichnungen und -malereien aus Theresienstadt nach Vancouver kam. Jana hatte damals einen jüdischen Freund; sie besuchte die Ausstellung, begann ihren Eltern Fragen zu stellen und fand heraus, woher sie kamen.
    Diese Dinge konnten bloß an Tageslicht kommen, weil das, was die eine Generation unterdrückt hatte, viele Angehörige der nächsten entdeckten und unbedingt diskutieren wollten. Der Graben zwischen den Generationen wurde von der New Yorker Schriftstellerin Kati Marton thematisiert, die als Katholikin erzogen worden war und keine Ahnung von der jüdischen Vergangenheit ihrer Familie hatte, mit 29 Jahren aber herausfand, dass ihre Eltern beide Juden waren und ein Großelternteil in Auschwitz gestorben war. Bald nachdem die Albright-Geschichte publik wurde, meinte Marton: »Meine Eltern sahen es so, dass man als Flüchtling ohnehin genug Probleme habe; warum sie noch verstärken, indem man ›jüdisch‹ zur Liste der Dinge hinzufügt, die man hinter sich lassen muss? Sie hatten zu viel Geschichte. Ich hatte nicht genug. Sie hatten das Gefühl, Amerikaner zu sein bedeute, keine Geschichte zu haben oder zumindest die Freiheit, sich selber auszusuchen, woran man sich erinnern möchte. Ich empfand das Gegenteil. Für mich bedeutet Amerika die Freiheit, ohne Scham jedes Erbe für sich in Anspruch zu nehmen, was immer es auch sein mag.«
    Als ich sie darum bat, wollte Anne nicht über ihr Leben schreiben. Einer ihrer frühesten Entwürfe begann: »Tim hat mich gebeten, meine Geschichte aufzuschreiben. Ich glaube, sie ist recht alltäglich, und ich habe keinen Anspruch, berühmt zu sein. Aber irgendwie interessiert es ihn, und vielleicht gibt es ihm eine Verbindung zur Vergangenheit, die er in einem ganz anderen Sinn haben möchte als ich.« Das Schreiben war für sie auch schwierig, weil sie sich dadurch mit ihrer Kindheit auf eine Weise befassen musste, wie sie es vorher nicht getan hatte; es gefiel ihr zwar nicht, was sie zutage förderte, aber sie fühlte sich verpflichtet, davon zu berichten, besonders von ihrem Gefühl, versagt zu haben. »Ich frage mich allmählich, ob ich diese Geschichte wirklich schreiben will«, begann sie einen anderen Entwurf. »Als Tim mich darum bat«, gab sie in einem weiteren zu, »wusste ich nicht, worauf ich mich da einließ.«
    Sie machte weiter, weil ich es eben wollte und weil sie daran glaubte, dass man etwas Angefangenes auch zu Ende bringen müsse. Sie schrieb, zeigte mir Entwürfe, und ich verlangte nach mehr, schrieb an den Rand ihrer Entwürfe Fragen und Vorschläge. Als sie nach mehr als einem Jahr aufhörte, viele meiner Fragen waren immer noch unbeantwortet, umfasste »Annes Geschichte« über siebzig einzeilig beschriebene Seiten, aber kaum ein Viertel ihres Lebens. Sie hörte 1939 auf, als sie siebzehn gewesen war; ich dachte, das sei deswegen, weil sie entweder nicht über ihr Erwachsenenleben schreiben wollte, oder weil ich es nicht lesen sollte. Tatsächlich schrieb sie noch mehr, konnte es aber nicht mehr auf die gleiche Weise gestalten oder ausformen, und sie zeigte es mir auch erst kurz vor ihrem Tod.
    Beinahe alles an ihrer Kindheit hätte sie gerne geändert. Falls sie sich einen Geburtsort, Eltern, Religion und finanzielle Lage hätte aussuchen
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