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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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er sich um wollte aus Reflex einfach loseilen – doch der Schritt ging ins Leere und Tino ist böse gestürzt.
    Genauso war es beim Tanzen. Immer wieder kamen wir ins Straucheln. Wir haben gemerkt, dass wir mit Verbissenheit nicht weiterkommen, und sind lachend aufs Bett gefallen. Ich habe dann gesagt: »Tino, wir improvisieren und schauen einfach: Entweder die Situation ergibt sich oder sie ergibt sich nicht.«
    Am nächsten Tag sind wir in die Stadt gefahren, um unsere Hochzeitskleidung auszusuchen. Tino wollte unbedingt, dass ich ein Kleid trage und nicht einen Hosenanzug, den ich bevorzugt hätte. Ich habe dann ein Kleid gefunden aus rosa Wildseide. Beim Herrenausstatter war die Verkäuferin völlig fassungslos, als Tino sagte: »Ich brauche nur den linken Schuh zum Anprobieren – der Rechte drückt nie und passt immer!« – und zur Erklärung das rechte Hosenbein hochgezogen hat.
     
    Der Tag unserer Hochzeit hatte in den vorangehenden Wochen zunehmend Symbolkraft bekommen. Und dann drohte im letzten Augenblick alles zu scheitern. Tino war kurz vor der Hochzeit noch viermal operiert worden. Er war immer noch in geschwächtem Zustand und der Beinstumpf instabil. Pilzbefall, wund geriebene Stellen und immer wieder Entzündungen. Jede weitere kleine Verschlechterung drohte die Heilungserfolge der vergangenen Wochen zunichte zu machen. Drei Tage vor der Hochzeit der befürchtete Rückfall: Der Stumpf hatte sich entzündet und musste operiert werden. Den Ärzten war klar, was so ein Rückschlag für uns bedeuten würde.

    Wieder wäre die Hoffnung auf Rückkehr in ein einigermaßen normales Leben ohne Krankenhaus zerschlagen worden. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufgebracht hätte, noch einmal von vorn anzufangen mit der Organisation eines neuen Hochzeitstermins. Es hatte mich jetzt schon alles sehr viel Kraft gekostet. Meine Mutter meinte immer, wenn sie mich zu der Zeit sah, ich sei nur noch Haut und Knochen, so abgemagert war ich. Auf den Fotos von damals liegen meine Augen tief in den Höhlen und wirkten irrsinnig groß. »Du sprichst mit den Augen«, sagen Freunde von mir immer, und in der Tat kann ich mich nicht gut verstellen, meine Augen verraten mich immer. Sie füllen sich schnell mit Tränen, wenn ich gerührt oder traurig bin. Und sie sind stahlblau, wenn ich sauer werde. Als die Nachricht von Tinos Rückschlag kam, war jedes Leuchten in ihnen irgendwie ausgeknipst. Ich saß bei Tino auf dem Bett und war am Heulen.
    Dann kamen die Ärzte. Erst ein bisschen verlegen, aber sehr entschlossen. Sie wüssten, wie wichtig die Hochzeit für uns – und auch für Tinos Gesundung – sei, sie würden alles tun, damit Tino zur Hochzeit aus dem Krankenhaus kann. Und – mit einem Lächeln – es sehe nach den aktuellen Befunden auch gar nicht mehr so schlecht aus. Diese Worte habe ich nur noch durch einen Tränenschleier wahrgenommen.
    Es bestand also noch Hoffnung, dass alles gut werden würde. Doch am Morgen der Hochzeit dann das volle Drama: Tinos Stumpf war nach der OP so angeschwollen, dass er nicht mehr in die Prothese passte. Er würde zur Trauung nun doch im Rollstuhl sitzen müssen. Alles schien verloren.
    Ich glaube, wir waren zu diesem Zeitpunkt beide in einem Zustand, dass nicht mehr viel hätte passieren dürfen. Wir waren erschöpft, abgearbeitet und hatten einfach keine Kraft mehr. In Murnauer Krankenhaus gibt es die geniale Orthopädiefirma Mödl, die uns dann geholfen hat mit einer cleveren Idee. Der
Schaft der Prothese wurde einfach aufgesägt und mit Klettverschlüssen gesichert. Die Prothese war damit zerstört für die weitere Verwendung – aber wir konnten damit unsere Hochzeit retten.
    Vor dem Standesamt waren dann alle da, Vio und Stefan mit ihren Söhnen, unsere Freunde und Verwandten, und die Kameraden von den Feldjägern, die in Uniform Spalier standen – zusammen mit der Hundestaffel. Tino stand beim Jawort wie geplant. Auf keinem der Fotos sind die Krücken zu sehen, die er zur Sicherheit immer dabei hatte – nichts sollte später an seine Verletzung erinnern. Er hat sie einfach hinter seinem Rücken versteckt, sobald der Fotograf sein Objektiv in seine Richtung schwenkte. Nach dem Standesamt haben wir alle zusammen gefeiert. Es war eine Party, ein »Dankeschönfest« für all unsere Freunde nach dieser schweren Zeit. Den Hochzeitswalzer habe ich mit Tino dann auch getanzt, diesmal mit echten Tränen in den Augen, es war für uns und alle Gäste der emotionale Höhepunkt der
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