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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du?
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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hielt es anders nicht aus. Er fand Bundesgenossen, gründete eine Bürgerinitiative, redete bei Versammlungen eloquent, wütend, geistreich, witzig gegen die Bebauung. Es gab heftige Debatten, die dörfliche Gemeinschaft zerstritt sich darüber. Gute Freunde wurden zu Gegnern. Es wurde erzählt, der Pfarrer habe meinem Freund vorgeworfen, er spalte seine Gemeinde. Mein Freund sang nicht mehr im Kirchenchor. Er litt sehr unter diesen Auseinandersetzungen, aber er blieb bei seiner Meinung.
    Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Menschen so detailliert und konkret, so aus der Nähe zwischen zwei Polen unserer Existenz ringen sehen können: Sicherheit und Freiheit. Wer nie auf dem Land gelebt hat, weiß wahrscheinlich nicht, was den Leuten dort die dörfliche Gemeinschaft bedeutet, welche Sicherheit sie ihnen gibtim Leben, in der alltäglichen Hilfe in den Häusern und Höfen. Der sieht vielleicht nicht sehr deutlich, wie wichtig Menschen die Gemeinschaft ist, in der sie leben, die sie abfedert gegen die Unwägbarkeiten des Daseins, die sie freilich auch einschränkt in ihrer Freiheit (denn der Mensch ist nicht nur Individuum, er ist auch ein Tier, das seine Herde braucht).
    Und der kann sich auch nicht vorstellen, welche Aggression es darstellt, wenn ein Pfarrer sich gegen ihn stellt und ihm vorwirft, er spalte die Gemeinde.
    Auf der anderen Seite stand damals der Stolz eines Mannes, ein freier Bauer zu sein oder was er sich darunter vorstellte, ein Mann, der sein Land und seine Familie gegen Ungerechtigkeit verteidigte.
    Es kam zu einem Bürgerbegehren, dann zu einem Volksentscheid in der Gemeinde. Das Baugebiet wurde in der Folge stark reduziert, ja, noch viele Jahre nach dem Entscheid stand dort kein einziges Haus.
    Jahre gingen ins Land. Die Eltern meines Freundes, hochbetagt und viele Jahre lang in der Großfamilie mit unter dem Dach des Hauses lebend, starben. Oft hatte mein Freund, wie ich wusste, unter der fehlenden Anerkennung seines Vaters für seine Arbeit als Bauer gelitten. Nun wurde die Situation der Milchbauern Jahr für Jahr schwieriger, der Milchpreis sank und sank. Mein Freund hatte Angst, er werde seine Familie nicht mehr ernähren und den Hof nicht erhalten können, den seine Familie seit Generationen bewirtschaftete. Er sah sich an dem scheitern, was er als seinen Auftrag, seine Aufgabe im Leben empfand.
    Solche Angst kann einen Menschen zermürben, wenn er sie nicht loswird. Sie kann zu einer Maschine werden, die Tag für Tag langsam sein Ich zermahlt und zermalmt. Mein Freund schlief nicht mehr, er zog sich von seinen Freunden zurück. Er musste eines Tages ins Krankenhaus, es gab keine andere Wahl mehr, man musste ihn psychiatrisch behandeln, und er wollte auch behandelt werden.
    Er kam in eine Klinik. Wenn ich ihm in diesen Monaten begegnete, sah ich einen anderen Menschen als den, den ich kannte. Ich hatte bisweilen das Gefühl, der fleischgewordenen Angst gegenüberzustehen, einem gleichzeitig auch in überheizten Räumen frierenden und heftig schwitzenden Mann, müde und überwach, verschlossen und sich doch nach Zuspruch sehnend.
    Ein Satz aus meinem Notizbuch, sein immer wiederholter Satz: »Ich kann mich doch nirgends mehr sehen lassen. Ich bin doch jetzt der Depp. Ich bin im Irrenhaus. Ich bin am Ende.«
    Es ging auf und ab, ein Jahr lang, immer wieder. Eines Sonntags im Advent redete ich mittags lange mit ihm. Aber ich drang, wie so oft, nicht wirklich zu ihm vor, wenn ich gegen seine Ängste die Wirklichkeit stellte: dass er eine wunderbare Familie habe, einen wertvollen Hof besitze, dass es für ihn andere Möglichkeiten gebe, als nur von der Milchproduktion zu leben. Er kehrte immer wieder zu seiner Angst zurück, so wie ein Jo-Jo sich immer wieder zur Hand hinaufdreht.
    Drei Stunden später fanden wir ihn auf seinem Heuboden, zu spät.
    Als im November2009 der deutsche Nationaltorwart Robert Enke sich mit ausgebreiteten Armen vor einen Zug gestellt hatte, um zu sterben, als das ganze Land für einige Tage plötzlich in eine ganz unerwartete Trauer versank und als die Frage, warum Menschen Depressionen haben, warum sie darüber oft kein Wort verlieren können und stattdessen einen einsamen Tod auf Bahngleisen, in Garagen und auf Dachböden suchen, als also diese Frage plötzlich in allen Medien behandelt wurde – da gab es plötzlich, nach zwei, drei Tagen, bei mir auch einen Widerwillen gegen dieses Medienereignis.
    War das nicht abstoßend, mit welcher Gier sich plötzlich alle
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