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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du?
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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ursprünglich nach Venedig fliegen. In ihrer Handtasche hatte sie alles dabei, was sie brauchte, um sich dort umzubringen, in einem Hotelzimmer, in einer Stadt, in der sie niemand kannte, denn sie wollte nicht einen ihrer Angehörigen oder Bekannten mit den näheren Umständen ihres Todes belasten.
    Ich rief sie an. Fragte, warum sie sich auch vor mir so verstellt habe.
    Sie sagte: Einmal seien wir ausgegangen, und ich habe ihr von einer Frau berichtet, mit der ich in den Monaten zuvor einmal ausgegangen war. Offenbar hatte ich in diesem Gespräch gesagt, dass diese Frauauf mich irgendwie verrückt gewirkt habe, sodass ich mich nie mehr bei ihr gemeldet habe. Sie hatte das als Wink und Zurückweisung verstanden. Diesen einen Spruch hatte sie falsch gedeutet. Aber was mich nach so langer Zeit noch beschämte: Im Prinzip hatte sie mich doch durchschaut.
    In der Geschichte für die ZEIT finden sich folgende Gedanken von ihr: Die Gesellschaft habe die Spielräume für den Einzelnen verengt. Das Credo, dass nur der Einzelne für sein Leben verantwortlich sei, werde oft so verstanden, dass er auch die alleinige Schuld an seinem Misserfolg trage.
    Ich hatte einen Freund, der war Bauer im Chiemgau, Milchbauer. Einer der schönsten Höfe weit und breit, oft fotografiert von den Wanderern, die vorbeikamen. Ein tatkräftiger, handwerklich äußerst geschickter, seinen Beruf, seine Tiere, seine Familie von Herzen liebender Mann, dabei sehr empfindsam und musikalisch, er sang mit schöner Stimme im Kirchenchor.
    Wir verbrachten viel Zeit miteinander, saßen auf der Bank vor seinem Haus in der Abendsonne, tranken Bier, und ich hörte die Geschichten aus der Geschichte des Hofes, vom kleinen, gerade geborenen Stier namens Ernst, der eine seltsame Art hatte, mit dem linken Auge zu zwinkern – und eines Tages traf ein norddeutscher Feriengast auf dem Hof ein, der seit langer Zeit kam und genau die gleiche Art hatte, das gleiche Zwinkern.
    Und wie hieß er, der Gast?
    Genau. Ernst.
    Zwei Ferienwochen lang war die ganze Familie bemüht, dem Gast den Namen des Stiers zu verheimlichen, aus Angst, er könnte denken, sie hätten dem Stier seinen Namen gegeben, wegen des Zwinkerns.
    Und von Schorschi, dem Hahn, hörte ich, der morgens, kaum wurde die Stalltür geöffnet, hinüber zu den hahnlosen Nachbarshennen wanderte, die ihrer fünfzehn waren, während er daheim selbst nur vier hatte.
    Abends kehrte er müde heim.
    Ich hörte aber auch von den Sorgen des Milchbauern, der mit seinen wenigen Kühen den großen Molkereien und Lebensmittelkonzernen ausgeliefert ist, nicht mithalten kann mit den Massenviehhaltern anderswo und oft schwankt zwischen der Liebe zu seinem Land und seinen Tieren und dem Stolz darauf einerseits und andererseits dem Kopfschütteln über jene, die dort sonntags spazieren gehen, sich an weidenden Tieren freuen und montags wieder ihre Milch möglichst billig im Supermarkt haben wollen – und diesen Widerspruch nicht einmal wahrnehmen.
    Gelegentlich, wenn es nötig war, half ich hier und dort mit auf dem Hof, und nie werde ich den Tag vergessen, an dem sich auf der abschüssigen Wiese eine hochschwangere Kuh ein Bein brach. Sie musste, weil das nicht zu heilen war, auf dieser Wiese getötet werden, mit einem Schuss in den Kopf. Sofort danach holte der Metzger mit einem weiten, präzise öffnenden Schnitt das Kälbchen aus ihrem Leib, und ich musste es halten, das kleine, an den Flanken zitternde Tier, das sonst den Abhang hinuntergerutscht wäre, während das Blut der Mutter in der Erde versickerte und mein Freund mit dem Metzger den Leichnam der Mutter mit einem Traktor wegschleppte.
    Die Trauer des Bauern über das tote Tier, mit dem er viele Jahre Tag für Tag zusammen gewesen war im Stall. Seine Freude über das gerettete Kalb.
    Eines Tages, das ist viele Jahre her, beschloss der Gemeinderat des Dorfes, in dem der Hof meines Freundes liegt, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Bebauung einer Wiese unterhalb einer weithin als Naturdenkmal berühmten Kapelle, eines Aussichtspunktes weithin ins Chiemgauer Land. Nahezu alle Nachbarn empfanden das als Skandal und als Verschandelung der herrlichen Landschaft zugunsten sehr durchsichtiger wirtschaftlicher Interessen. Auch mein Freund empörte sich.
    Wir, die Städter, redeten ihm zu: Er müsse sich wehren. Er sprach, wie man so redet, von »denen da oben« und dass man nichts machen könne, »als kleiner Bauer«.
    Doch eines Tages beschloss er, dagegen vorzugehen, er
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