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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition)
Autoren: Mira Magén
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Rasur nicht mehr wichtig waren. »Das Ganze ist ein großes Theater, ich bin nur ein Schauspieler, ich stehe auf der Bühne, und ich mache aus Verbrechern und Dieben, die alte Frauen überfallen haben, unschuldige Lämmer.« Die Zahl der Fälle, die er übernahm, wurde immer weniger. Es fiel ihm schwer, sich auf Beweise und Argumentationen zu konzentrieren, er verließ sich nicht mehr auf sein Gedächtnis und las seine Reden ab, er sagte, er sei nicht mehr konzentriert, sein Kopf sei woanders. Seine Kollegen fragten sich, was aus dem redegewandten, durchsetzungsfähigen und glühenden Verteidiger geworden war. Manchmal hörte er mitten in seiner Tätigkeit auf, stand am Fenster und starrte gespannt auf die Straße, als wäre sie eine Metapher für etwas anderes und als würde sich die Moral von derGeschichte gleich zeigen und eine spannende Einsicht in die Existenz verkünden. Mehr als einmal hatte er zu sich gesagt, los, beweg dich, Gideon, bewege deinen Hintern, mach etwas aus dir. Solche Stimmungen hatten mich erst zermürbt und dann bezaubert.
    Allmählich wurde ich gleichgültig und fragte mich, nun, wie geht es weiter? Jeden Tag zog sich der Himmel im rechteckigen Fenster der Bank weiter zusammen und verlor seine blaue Farbe, mein Herz sagte mir, es sei die richtige Zeit, sich dem erstickenden Druck der Karriere zu entziehen. Nun, da ich über dreißig war, gesund und kräftig und neugierig, kam der Laden und bot mir eine Feuerprobe, ermöglichte mir den Kopfsprung ins laue Wasser. Gideon sagte, das Lebensmittelgeschäft sei eine Korrektur, die zu unserer Familie passe, die Hälfte der Familie werde das Brot mit verkopften Luftgeschäften im Dienst der Gerechtigkeit verdienen, und die andere Hälfte mit Brot, mit richtigem, geknetetem, gebackenem Brot, lebendig und warm, aus Mehl, das aus der Erde kommt.
    Mein Vater hätte seinen Tod hinausgezögert, wenn er gewusst hätte, dass ich im Laden stehen und seinen Platz einnehmen würde. Der Laden war die Lösung für Holocaust-Überlebende, nicht für Israelis mit Diplom und Karriere. Der Laden hielt ihn aufrecht, bis er eines Morgens aufgab, auf der Schwelle zusammensank und grau wurde wie das Wasser im Fass mit den Salzgurken. Ein Junge kam, um etwas zu kaufen, sah ihn da liegen und schrie: »Herr Jizchak, stehen Sie auf, ich möchte einen Schokokuss.« Eine Frau kam, legte dem Jungen die Hand über die Augen und sagte: »Um Gottes willen, ein Kind braucht solche Dinge nicht zu sehen. Einen Krankenwagen, ruft einen Krankenwagen …«
    Wir trauerten, aber wir waren nicht überrascht. Unsere Eltern waren Überlebende, verletzt und mager, sie hatten nichts von dort mitgebracht außer ihrem schwachen, gebrochenen Gott. Ihr Geist war viel älter als ihr Körper, sie ließen die Jahre vergehen, bis sich ihrer beider Einsamkeit zu einer großen Einsamkeit zusammenfügte. Sie bekamen mich und Jonathan und rangen die Hände, wenn wir uns gegen ihre Vergangenheit wehrten und barfuß über den kalten Boden liefen, wenn wir Wasser tranken, nachdem wir Wassermelonen gegessen hatten, wenn wir altes Brot in den Mülleimer warfen und wenn wir sangen: »Lasst die Sonne aufsteigen, den Morgen zu erleuchten.«
    Den Sieg über die Nazis feierten sie, als sie bei den Feierlichkeiten anlässlich der Verteilung akademischer Auszeichnungen an der Fakultät auf der Tribüne saßen. Das Zeugnis, das ich in den Händen hielt, war ihre Wiedergutmachung für den Verlust ihrer Eltern und ihrer gestohlenen Jugend. Gut, dass niemand sie lebendig machte und sie nicht sahen, wie ich im Laden Kisten mit Milch und Brot schleppte und daraus mein Auskommen zog, nicht zu viel und nicht zu wenig. Vorläufig reichte es uns. Auch unsere Ersparnisse standen uns zur Verfügung, wir hatten gespart, als Gideon noch die schwarze Robe trug und ich bei der Bank arbeitete. Er konnte monatelang in Gesellschaft seiner Fische schweigen, ohne dass wir hungern mussten, vorausgesetzt, wir handelten vernünftig und setzten das ein, was ich über die Beziehung zwischen Einnahmen und Ausgaben gelernt hatte.
    Am Nachmittag kamen mein Bruder Jonathan und seine Frau Tamar am Laden vorbei, auf ihrem Weg von hier nach dort, und das »Hier« und das »Dort« waren voller Gottund schicksalhaft. Jonathan war mager und groß wie unser Vater, Tamar aufrecht wie eine Gerte, nicht klein und nicht groß. Sie fragten, wie es uns ging und ob mir die Sache mit dem Laden nicht zu schwerfalle. Sosehr sie wollten, dass der Laden
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