Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
Vom Netzwerk:
des Waschbeckens ist stumpf und übersät mit eingetrockneten Spritzern Zahnpasta, er nimmt seine Prothese aus dem Wasserglas und steckt sie sich in den Mund zu seinen wenigen verbliebenen Zähnen. Er muss die Kiefer gegeneinanderdrücken, damit sie in die richtige Position schnappt mit einem Klacken. Eine Goldkrone hat sich gelöst und klemmt in einer Klammer der Prothese, das Zahnfleisch um den Stumpf schmerzt und beginnt täglich beim Einsetzen von Neuem zu bluten. Danach ist kurz Stille in seinem Kopf, das Knarren der Dielen unter dem Teppich im Flur lässt die Gedanken zurückkommen. Süßlich der Geschmack des Blutes in seinem Mund.
    Der Schlüpfer der Frau riecht entfernt nach Waschmittel. Er drückt ihn sich ins Gesicht und atmet tief. Er weiß nicht mehr, wie eine Frau zwischen den Beinen riecht, wahrscheinlich interessiert ihn das nicht, hoffentlich hat er es nie gewusst. Bestimmt würde er es vermissen.
    Er sieht sich um, bevor er die Tür hinter sich ins Schloss wirft und die Straße hinab nach Gefrieß reinläuft wie jeden Nachmittag, seit er die Zeitung austrägt, nur um am Abend heimzukehren wie jemand, der von der Arbeit kommt. Am Zaun des großen Lochs am Marktplatz, wo die Tiefgarage gebuddelt wird, stehen dieselben alten Männer wie die Tage zuvor, mein Vater nickt und stellt sich dazu. Die Männer erwidern sein Nicken. Ein Kind zieht seine Mutter an der Hand an den Zaun, während mein Vater sich löst und seine Runde die Fußgängerzone entlang zum Bahnhof beginnt, vorbei an dem Schnitzel-Burger-Imbiss, dem Hähnchen-Bräter und dem Backshop, in dem er sich kurz vor Ladenschluss manchmal ein Brot zum Sonderpreis kauft. Der Abend ist sein Ziel, geht er durch die Etagen der Kaufhäuser; auf den Rolltreppen ruht er sich kurz aus und schließt die Augen, still zählt er bis zehn, öffnet die Augen und macht den Schritt über das Schmutzblech.
    Ihre tiefe, leicht raue Stimme erkennt er sofort. Sie steht in der Spielzeugabteilung vor dem Regal für Computerlernspiele für Vorschulkinder und unterhält sich mit einem Verkäufer. Mein Vater kennt den Verkäufer, er hat ihn früher beraten, kaufte er hier Spielsachen für mich – ein dicker Mann, der nur wenig größer ist als Theresa, mit Nickelbrille, der mit einer Stimme spricht wie ein Märchenonkel. Theresa senkt leicht den Kopf und sieht den Verkäufer von unten herauf an, sie sagt: Sie kommt mehr nach meinem Mann, das nächste Mal bring ich sie aber bestimmt mit.
    Sie streicht sich eine Strähne hinters Ohr, die Haut an ihren nackten Schultern ist gebräunt, als verbrächte sie mehr Zeit im Freien, seit mein Vater nicht mehr für sie arbeitet. Der Verkäufer lächelt, und Theresa dreht sich weg und liest die Beschreibung auf der Vorder- und Rückseite eines Spiels, bevor sie den Blick hebt und über das Gelesene nachzudenken scheint – und die Schachtel wieder ins Regal zurückstellt. Beim nächsten hebt sie die Augenbrauen und hält es noch eine Weile in der Hand. Der Verkäufer fragt: Schläft sie noch so schlecht?
    Theresa nickt.
    Meine Tochter, sagt der Verkäufer, spielt meiner Enkelin jeden Abend zum Einschlafen von ihrem Handy das Geräusch von Regen vor – hat sie sich runtergeladen aus dem Internet –, und die Kleine schläft davon ein, kein Problem.
    Ich will ja immer noch nicht glauben, dass Sie Enkel haben, sagt sie und streicht sich wieder die Strähne hinters Ohr: ich könnt jetzt einen Kaffee vertragen, vielleicht können Sie mich begleiten?
    Und mein Vater dreht sich um und verlässt das Kaufhaus, bleibt nach ein paar Schritten stehen und fragt sich, ob die Tochter des Verkäufers das Regengeräusch für ihr Handy von dem Unternehmen hat, in das ich sein Geld investiert habe, obwohl er weiß, dass die nicht einen einzigen Klingelton verkauft haben, niemals wollten, niemals sollten.
    Mein Vater weiß nicht, wohin. Auf den Bänken in der Fußgängerzone sitzen Schulschwänzer, Rentner, Rentnerinnen, Hausfrauen. Der Backshop hat Stühle aufgebaut vor dem Laden, das Geld für einen Kaffee, den er dort trinken müsste, will er sparen. Er bleibt stehen im Schatten des Kaufhauses, sein Skelett fühlt sich an, als könne es auseinanderbrechen, als würde es nicht mehr ausreichend zusammengehalten von den Muskeln und Sehnen seines Körpers. Er hustet und wischt sich mit dem Handrücken Spucke von den Lippen.
    Das Gebäude des Kaufhauses hat drei Ausgänge, über jedem zieht sich eine getönte Glasfront bis zum Dach. In der dritten Etage
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher