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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Autoren: Anja Reich
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die sich am Sack kratzen und spucken. Basketball wird im Moment nicht gespielt, die US Open im Tennis sind zu Ende gegangen, als ich in New York landete. Lleyton Hewitt hat gewonnen und eine der Williams-Sisters. Die interessieren mich alle nicht richtig. Ich mag nur noch Andre Agassi, aber der läuft auch schon so seltsam hüftsteif.
    Und der amerikanische Fußball schafft es irgendwie nicht. Lothar Matthäus, der zur gleichen Zeit wie ich nach New York zog, um für die
Metro Stars
zu spielen, hat inzwischen aufgegeben. Ich habe ihn einmal an einer
Tollbooth
vorm Hudson River getroffen. Er stand in seinem BMW-Geländewagen direkt in der Reihe neben mir. Zwei Deutsche in zwei schwarzen Geländewagen, ich habe ihn aus meinem Autofenster angelächelt wie einen alten Bekannten, er hat natürlich durch mich hindurchgestarrt. Es war mir noch tagelang peinlich. Es ist die Fremde.
    Wie jeden Dienstag gibt es im Tabellenteil der
Sports Section
die europäischen Fußballergebnisse. Ich kenne die Bundesligaresultate ja aus Deutschland, aber ich schaue sie mir trotzdem an. Ich könnte stundenlang in den Tabellen versinken. Cottbus hat 3:3 gegen Wolfsburg gespielt, Hansa 1:1 gegen Freiburg. Cottbus ist Fünfter, sehr schön. Ich hab am Sonnabend noch die Sportschau auf meinem Berliner Hotelzimmer gesehen, ich habe alle fünf Spieltage der Hinrunde in Europa erlebt, aber jetzt ist die Saison für mich vorbei. Fußball verblasst hier, ich weiß nicht mal genau, wer im letzten Jahr Meister wurde. Ich habe das Champions-League-Finale verpasst, obwohl die Bayern mitspielten, und es war mir egal. Es ist ganz erholsam, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich in Deutschland zuletzt Premiere-Abonnent war. Ich habe ganze Sonnabende auf der Couch verbracht, meine Frau hat mich manchmal angesehen wie ein Möbelstück, das nicht mehr in die Wohnung passt. Es ist bestimmt gut für uns, dass es hier keinen Fußball gibt, aber eine Lücke ist da doch.
    Der
Spiegel
hat mir angeboten, im nächsten Jahr als Berichterstatter zu den Fußballweltmeisterschaften nach Japan und Korea zu fahren. Ich habe es Anja noch nicht gesagt, und im Moment ist natürlich keine gute Zeit. Ich habe Angst vor ihrer Reaktion, dabei weiß ich eigentlich, dass ich sowieso fahre. Ich muss. Es ist ein Traum.
    Die Kinder sehen mich überrascht an, wenn ich nach so langer Zeit wieder an ihrem Bett auftauche, freudig, aber auch fremdelnd. Ich bin ein Besucher in ihrem Leben, ein gern gesehener Gast. Ich gebe ihnen die süßen Cornflakes, um die Fremdheit wegzuspülen. Zucker ist ihre Droge, ich bin ihr Dealer. Ich habe gestern im
Key Food-
Supermarkt in der 7 th Avenue Frosties gekauft, die Anja hasst. In Frosties steckt am meisten Zucker, aber ich war zwei Wochen weg. Ich lausche dem Gemurmel der Kinder, dem schlaftrunkenen Geschiebe und Gestreite, sie reden Englisch miteinander, was mich stolz macht, obwohl das natürlich falsch ist. Sie sollten Deutsch reden, hier in unserem Haus sollten sie Deutsch sprechen. Wenn Mascha am Telefon mit ihren Großeltern Deutsch spricht, erinnert sie mich an Elvis Presley in
Wooden Heart
, Ferdinand spricht ohne Akzent, aber sein Wortschatz schrumpft, er umschreibt bereits einfache Begriffe. Ich glaube, dass wir irgendwann zurückkehren, und genieße meine Englisch sprechenden Kinder vorbehaltlos. Sie beweisen mir, dass ich es aus der ostdeutschen Provinz heraus geschafft habe. Als wir im Juli in Berlin landeten, rief meine Tochter durchs ganze Flugzeug: »I didn't throw up, Daddy.« Ich strahlte meinen Sitznachbarn stolz an, meine Tochter hatte diesmal bei der Landung nicht gekotzt und konnte das mit wunderbarem Brooklyn-Akzent sagen.
    Die Kinder löffeln ihre zuckrigen Cornflakes. Ihre Augen schauen gierig und leer in die Schalen wie Katzenaugen. Ich frage mich, was von solchen Morgen bleibt, was von mir als Vater bleibt, von all dem Zucker, den kleinen Scherzen, dem guten Willen. Meine Tochter trägt immer noch gern das rosa Koalabär-T-Shirt, das ich ihr von der Olympiade in Sydney mitgebracht habe, aber irgendwann wird es zu klein sein. Ich habe fast jede Erinnerung an gemeinsame Frühstücke mit meinen Eltern verloren, bis auf den Trick mit dem umgedrehten, leeren Ei, den Geruch des Rasierwassers meines Vaters und den Blumenteller. Wir hatten zu Hause nie ein Frühstücksservice oder so etwas, wir hatten verschiedene, zusammengewürfelte Teller, einer hatte eine Rose in der Mitte. Irgendwann entschied meine kleine Schwester beim
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