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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Autoren: Anja Reich
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Tischdecken: »Papa krischt den Blumentella, weilla imma uffa Arbeit muss.« Es wurde ein Familienmotto. Eines Morgens hat mein Vater den Blumenteller in einem Streit mit meiner Mutter an die Wand geworfen. Ich weiß nicht, worüber sie stritten, ich sehe nur noch den Teller fliegen, mein Vater steht auf und geht, und ich renne hinterher und rufe ins Treppenhaus, er soll bitte zurückkommen. Aber er kommt nicht zurück, er geht einfach weiter. Uffa Arbeit wahrscheinlich.
     
     
     
    I ch muss nochmal eingeschlafen sein. Als ich die Augen öffne, ist es ganz hell draußen, und ich höre Alex und Ferdinand im Kinderzimmer Fußball spielen, vermutlich zwischen Hochbett, Schreibtisch und Kleiderkammer. Sie toben herum wie kleine Kinder und ich hier oben in meinem Bett warte darauf, dass die Stimmung umschlägt, Ferdinand sich weh tut, Mascha mitspielen will oder es einfach an der Zeit ist, zur Schule zu gehen. Das ist der Moment, in dem sich Alex aus einem sechsjährigen Jungen in einen 39-jährigen Vater zurückverwandelt. Meist ohne Vorwarnung. Ich kann nicht sehen, wie er auf die Uhr sieht, aber ich höre es an dem winzigen Moment der Stille, dem ein: »Okay, let's go. Ferdi, do you have your lunchbox, your backpack?« folgt.
    Alex spricht Englisch mit Ferdinand, seine New Yorker Lehrerin hatte uns dazu geraten. Er war gerade sieben geworden, als wir umzogen, und er konnte nicht viel mehr als: »My name is Ferdinand. I'm seven years old. I'm from Berlin.« Wir hatten ihn auf einer ganz normalen öffentlichen amerikanischen Schule angemeldet und nicht in der deutschen in White Plains, weil wir nicht wollten, dass er zwischen Diplomatenkindern in der Vorstadt aufwächst. Wir wollten das echte New York erleben. Vielleicht war das egoistisch, ich weiß es nicht, wir haben es einfach gemacht, und unser Sohn hat es nie in Frage gestellt. Er war ja kein Einzelfall. In seiner Schule gab es etliche Kinder, die kein Englisch konnten. Viermal pro Woche bekamen sie Nachhilfe, und einmal in der Woche gab es einen Sprachkurs für Eltern in der Schule. Ich war einmal da, aber die Lehrerin schickte mich nach Hause, denn die Mütter, die sie unterrichtete, konnten überhaupt kein Englisch.
    Ich hatte in der Schule Englisch gelernt, im Studium und später noch auf einer Abendschule, verstand aber trotzdem nie die Ansagen in der Subway und wenn ich bei Starbucks einen Sesam-Bagel bestellte, bekam ich einen mit Mohn. Einmal, im Florida-Urlaub, klingelte ein Mann in einer braunen Latzhose an der Tür unseres Ferienhauses. Er sagte, er sei von der Pest Control , ich verstand Pass Control und holte meinen deutschen Pass. Der Mann sah mich verwundert an. »Pest Control«, sagte er. Er war ein Kammerjäger.
    Ich meldete mich auf dem Baruch City College in Manhattan für einen Sprachkurs an und las nachmittags mit meinem Sohn Kinderbücher. Nach einem Jahr war sein Englisch fließend, und unsere Nachbarin glaubte sogar einen leichten Brooklyn-Akzent bei ihm festzustellen. Alex hätte jetzt eigentlich wieder Deutsch mit ihm reden können. Aber er dachte nicht daran.
    »Stop it«, ruft er jetzt, schon etwas genervt. Ferdinand versteht sofort den Ernst der Situation, Mascha nicht, sie will weiterspielen.
    »Mascha«, höre ich meinen Mann rufen, bereits von unten. »Willst du mitkommen? Dann musst du jetzt deine Schuhe anziehen.« Mascha quengelt und wahrscheinlich verspricht er ihr jetzt, auf dem Rückweg bei Starbucks vorbeizugehen. Starbucks heißt in diesem Fall Kaffee für ihn, Muffin für sie – ein Muffin, zweimal so groß und so nährreich wie ein Berliner Pfannkuchen. Ich höre schnelle, kleine Kinderschritte auf der Treppe, das quietschende Öffnen der Tür, und ich wette mit mir selbst: Schließt er die Tür ab oder nicht? Ich tippe auf »nicht«.
    Auch das gehört zur morgendlichen Routine meines Mannes. Er lehnt die Tür nur an, weil das Schloss klemmt, weil er den Schlüssel gerade nicht findet und weil es schon niemand wagt, einfach ins Haus zu spazieren. Egal, was unsere Nachbarn für Horrorgeschichten von Einbrechern erzählen. Egal, ob ich Angst habe oder nicht.
    Ich schlage die Decke zurück, stehe auf, renne barfuß die Treppe hinunter. Die Tür ist nur angelehnt, ich hab's gewusst. Ich gehe in Deckung, als ich sie abriegele, bevor mich eine der energetischen Mütter, die um diese Zeit in Scharen an unserem Haus vorbeiziehen, durch die Scheibe sehen kann.
     
     
     
    U
nser Auto steht zwischen 5 th und 6 th Avenue auf der
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