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Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Titel: Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Autoren: Martin Gohlke
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Bemerkungen Manfreds; seine Äußerungen streiften älteste Kindheitserfahrungen wie jüngste Erlebnisse. In der Regel ergab die Zusammenstellung seiner Satzgefüge keinen Sinn.
    Der Professor hatte sich seit seinem Aufenthalt im Hospiz-Dorf mit Fragen der Gerontologie beschäftigt und fragte sich angesichts von Manfreds Äußerungen nun, ob die von einem Alterswissenschaftler aufgestellte These wohl stimmen mag, dass beim Sterbenden der Lebensfilm mehrmals hintereinander ablaufen kann, dabei in immer kürzerer Zeit, beim letzten Mal wohlmöglich in nur wenigen Minuten. Der Professor hatte bei seiner Lektüre erstaunt die von großer Überzeugung getragene Auffassung des international renommierten Wissenschaftlers aufgenommen, dass die Erinnerungen bei jedem Durchgang durch einen immer engmaschigeren Filter müssen, um immer treffsicherer das wirklich und eigentlich Wesentliche aus dem Leben zu erfassen. Der Sterbende sei auf der Suche. Nur, so fragte sich der Professor gerade, warum sucht der Sterbende eigentlich? Und nach was sucht er?
    „Ilona, mach das Fenster auf. Es ist heiß hier. Guck nur, wie Höttges am Hecheln ist.“ Manfred hatte gesprochen.
    Fast wäre Ilona aufgesprungen, so überrascht war sie, denn zweifelsohne war das ein logischer Satz mit einem realen inhaltlichen Bezug. Und Manfred legte nach.
    „Die Beobachtung des Hundes muss soeben eine Mordsanstrengung für mich gewesen sein.“
    Einen größeren Beweises für ein hochwaches Bewusstsein konnte es nicht geben als diese Art der Selbstreflexion. Es gab noch eine Fortsetzung, wobei Manfreds Stimme auf der Stelle leise und brüchig war. „Ich bin müde, aber Ruhe habe ich nicht.“
    „Er schläft wieder“, deutete der Professor Manfreds halb geschlossene Augen.
    „Wie lange geht das noch?“, flüsterte Ilona dem Professor ins Ohr, nachdem der sich auf ihre Seite gesetzt hatte.
    „Ich habe einen Aufsatz gelesen“, flüsterte der Professor mit angelegter Hand zurück, „der danach gefragt hat, welche Gründe es wohl dafür gibt, dass einige Menschen im Wechsel von Klar- und Verwirrtheit und im Wechsel von größter Schwäche und Momenten großer Energiegeladenheit dahingehen.“
    „Und?“
    „Was wir von Manfred eben gehört haben. Diese Sterbenden finden keine Ruhe.“
    „Vielleicht sind das einfach die Medikamente.“
    „Bei Verwirrtheit ist das oft so. Aber nicht bei Anfällen beeindruckender Energie und Klarheit – was wir hier bei Manfred erleben. Der Autor des Aufsatzes ist der Meinung, dass Sterbende, die noch ganz zum Schluss plötzliche Attacken der Lebendigkeit erleben, getrieben werden. Früher dachte er, dass der Sterbende in dem Moment, wenn er den Tod akzeptiert, seine Ruhe findet – auch wenn er dabei äußerlich von den Beisitzenden als im Todeskampf erlebt werden kann und sich die Entspannung in seinem Gesicht erst unmittelbar nach dem letzten Atemzug zeigt, sei seine Seele schon im Frieden, und zwar die ganze Zeit, in welcher sein Lebensfilm abläuft. Inzwischen geht der Wissenschaftler jedoch davon aus, dass Leute, die so sterben wie Manfred, ein Geheimnis quält. Der Mensch nehme nichts mit ins Grab; wer das versucht, hat einen verdammt hohen Preis zu zahlen, nämlich den, dass er zu keinem Zeitpunkt seine Ruhe findet.“
    „Sag das Letzte noch mal...“
    „Der Mensch nimmt nichts mit ins Grab; wer das versucht, hat den Preis zu zahlen, dass er zu keinem Zeitpunkt seine Ruhe findet.“
    Der Professor machte eine Pause und fragte sich, ob sein Gerede Ilona im Moment nicht überfordere. Trotzdem sprach er weiter. Er hatte sich selbst neugierig gemacht, wie er merkte und augenblicklich glaubte er zu wissen, warum. „Ein spirituell begabter Mensch hat letztens dazu geschrieben, dass es dem Sterbenden, der ein Geheimnis mit ins Grab nimmt, unmöglich ist, mit dem von ihm angenommenen großen Ganzen zu verschmelzen. Das sei die Höchststrafe für einen Menschen.“
    „Das ist Esoterik.“ Ilona sprach trotz ihrer geringen Lautstärke in einem härteren Ton; ganz offensichtlich schien ihr das Thema zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort erörtert. „Außerdem war Manfred Atheist“, flüsterte Ilona. „Ist“, korrigierte sie sich.
    Der Professor fühlte seine Worte nicht richtig verstanden. „Nochmal: Ist an den Aussagen des Gerontologen etwas dran, ist der Preis für ein Geheimnis, das man mit ins Grab nehmen will, eine brutale seelische Verwerfung. Derzeit...“
    „Nicht jetzt“, unterbrach Ilona, als
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