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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du
Autoren: Unbekannter Autor
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sich der Riegel öffnen ließ, und stieß die schwere hölzerne Eingangstür zu seinem Haus auf. Als er den Schalter betätigte, wurde der enge Flur, der zur Treppe führte, in gelbliches Licht getaucht. Ein blauer Umschlag ragte aus dem Schlitz seines Briefkastens. Er nahm ihn an sich und eilte die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Das Blatt war schon entfaltet, als er sich auf sein Sofa warf.
    Philip
    wenn dich diese Zeilen in zwei Wochen erreichen, haben wir schon Ende August und müssen uns bis zu unserem Wiedersehen nur noch ein Jahr gedulden; ich meine, die Hälfte ist überstanden. Ich hatte noch keine Zeit, dir zu erzählen, dass ich vielleicht befördert werde. Es geht das Gerücht, dass ein neues Lager in den Bergen errichtet und ich die Verantwortliche werden soll. Danke für dein Päckchen; auch wenn ich seltener schreibe, fehlst du mir sehr, du musst älter geworden sein seit unserer Trennung! Lass bald von dir hören,
    Susan
    10. September 1975 Susan,
    ich werde nie mehr unbefangen die drei Worte »Ein Jahr später ... , die manchmal auf der Kinoleinwand erscheinen, lesen können. Ich hatte vorher auch nie auf die diskreten, hinter den drei Pünktchen verborgenen Gefühle geachtet, die nur derjenige versteht, der weiß, wie sehr Warten auch Einsamkeit bedeuten kann. Wie lang sind doch diese Minuten, die sich mit drei Pünktchen zusammenfassen lassen! Der Sommer geht zu Ende, mein Praktikum auch; sie haben mir eine Stelle angeboten, sobald ich mein Diplom in der Tasche habe. Ich bin nicht ein einziges Mal im Meer baden gewesen; ich war so dämlich, mir einen Film über einen großen weißen Hai anzusehen, der Angst und Schrecken an unseren Stränden verbreitet. Er ist vom selben Regisseur wie «Duell». Mein Gott, wie haben wir beide diesen Streifen geliebt, weißt du noch, damals im Filmforum? Wenn ich an jenem Tag bei Verlassen des Kinos geahnt hätte, dass ich wenige Jahre später in der Straße mit dieser Bar leben würde, in die wir so oft gegangen sind! Dass ich dir einmal »ans andere Ende des Welt« schreiben würde! Während einer besonders grausamen Szene hat eine junge Frau, die zufällig neben mir saß, ihre Fingernägel in meinen Arm, der auf der Lehne zwischen uns lag, gekrallt. Das war urkomisch, weil sie sich anschließend bis zum Ende der Vorstellung hundert Mal entschuldigt hat. Ich habe noch nie so viele »Pardon» und »Tut mir Leid» innerhalb einer Stunde gehört. Du hättest mich nicht wiedererkannt, mich, der ich sonst ein halbes Jahr brauche, um ein Mädchen anzusprechen, das mir in einem Restaurant zulächelt. Stell dir vor, ich habe tatsächlich gesagt: »Wenn Sie weiterreden, werfen die uns raus; deshalb lassen Sie uns lieber nachher bei einem Gläschen plaudern.» Sie blieb bis zum Ende der Vorführung stumm, und ich habe natürlich nichts mehr vom Film mitbekommen. Das war blöd, weil ich sicher war, dass sie sich nach der letzten Einstellung aus dem Staub macht. Als das Licht wieder anging, ist sie mir auf die Straße gefolgt, und ich hörte sie hinter mir fragen: »Wo wollen wir essen?» Wir sind zu Fanelli's gegangen; sie heißt Mary und studiert Journalismus. Es goss heute Nacht wie aus Kübeln. Ich gehe jetzt schlafen, das ist besser so, ich erzähle dir sonst alles Mögliche, um dich eifersüchtig zu machen. Schreib mir ganz bald,
    Philip
    Ein Tag im November 1975, ich weiß nicht mehr, welcher Mein Philip,
    mein letzter Brief liegt schon mehrere Wochen zurück, aber die Zeit vergeht hier irgendwie anders. Erinnerst du dich noch an das kleine Mädchen, von dem ich dir in einem meiner Briefe erzählt habe? Ich habe sie zu ihrem neuen Vater zurückgebracht. Ihr Bein war nicht zu retten, und ich hatte Angst, wie er reagieren würde, wenn er sie so sieht. Ich habe sie in Puerto Cortes abgeholt; Juan hat mich begleitet. Er hat ihr hinten auf dem Dodge mit Mehlsäcken eine Art Matratze gebaut. Im Krankenhaus sah ich die Kleine dann, wie sie am Ende des Gangs auf einer Bahre wartete. Ich musste mich konzentrieren, um ihr Gesicht zu betrachten und nicht das amputierte Bein. Warum dem, was nicht mehr existiert, was nicht mehr funktioniert, mehr Bedeutung beimessen als dem, was da ist, was funktioniert?
    Mich quälte die Frage, wie sie mit ihrer Behinderung fertig werden würde. Juan verstand mein Schweigen, und bevor ich mich an sie wenden konnte, flüsterte er mir ins Ohr: »Lassen Sie sie nicht Ihr Mitleid spüren; Sie sollten sich freuen. Ihre Andersartigkeit ist nicht das
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