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Wir zwei sind Du und Ich

Wir zwei sind Du und Ich

Titel: Wir zwei sind Du und Ich
Autoren: Diana Raufelder
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eingefallenem Gesicht verloren neben dem Hoftor steht. Ihre Haut scheint grau, wie ihr unscheinbarer Mantel, der sie umhüllt. Auf den ersten Blick erkennt man, dass sie nicht hierher gehört. Ihr suchender Blick verrät sie. Wie sie so trostlos dasteht, tut sie Ri fast leid.
    „Mama!“
    „Ach, da bist du ja“, sagt Frau Lehmann, die Ri erst jetzt entdeckt hatte. Ihre Stimme klingt matt. Zur Begrüßung umarmt sie ihre Tochter. Ri lässt es geschehen.
    „Ist was passiert, Mama?“
    „Nichts Schlimmes“, sagt Frau Lehmann mit Tränen in den Augen. Sie kann ihre Blicke gar nicht von Ri lassen. Als würde sie sie heute zum ersten Mal sehen.
    „Ich muss mit dir reden!“

Die Aussprache
    „Dann gehen wir ins Impala. Einverstanden?“
    Ris Mutter nickt.
    Eine ungewohnte Fremdheit hält sie auf Distanz, während sie an den bunten Häusern am Helmholtzplatz vorbeilaufen. Als Kind hatte Ri diesen Ort geliebt. Damals waren noch nicht alle Häuser renoviert. Neben einem frisch gestrichenen rosa Dornröschen-Haus standen drei von Kohlenstaub verrußte Häuser mit den alten doppelt verglasten Flügelfenstern und Einschusslöchern in den Fassaden, die noch aus dem zweiten Weltkrieg stammten. Ri mochte diesen Kontrast, weil er wie das Leben war. Jetzt war alles nur noch schön. Zu schön. Wie eine Kulisse oder eine Stadt aus Zuckerguss.
    „Du siehst schlecht aus“, sagt Ri jetzt. „Geht es dir nicht gut?“ Es kommt ihr vor, als wäre ihre Mutter um Jahre gealtert. Seit dem Tag im Krankenhaus kurz vor Weihnachten hatten sie sich nicht mehr gesehen.
    „Ja“, sagt Frau Lehmann. „Mir geht es nicht gut. Du fehlst mir.“
    Ri stockt der Atem. So hatte sie ihre Mutter noch nie reden hören. In ihrer Familie galt sonst die Regel, dass man über Gefühle nicht spricht. Diese Regel hatte natürlich Ris Vater aufgestellt. Überhaupt waren Gefühle etwas, das er am liebsten vertreiben und ausrotten würde, wenn er könnte. „Gefühle hindern Menschen nur am arbeiten“, behauptete er immer.
    „Wir haben Lebkuchen gebacken“, sagt Ri, und schon während sie es sagt, kommt es ihr blöd vor. Was für einen Schwachsinn rede ich eigentlich? Aber bei dem Gedanken an ihren Vater lodert auch gleich wieder die Wut auf ihre Mutter in ihr auf. Wie hatte sie diesen Mann heiraten können? Und wieso hält sie immer noch zu ihm?
    „Schön!“, antwortet Frau Lehmann. „Verstehst du dich gut mit Ben?“
    „Hm“, murmelt Ri und muss lächeln. Immer wenn sie an Ben denkt, muss sie lächeln. Sie kann es nicht aufhalten.
    „Es ist, als wäre er nie weg gewesen. Manchmal müssen wir nicht einmal reden und trotzdem wissen wir, was im anderen vorgeht. Kennst du das?“
    „Ich weiß nicht“, antwortet Ris Mutter zögerlich und drückt dabei die Glastür zum Impala auf. Wärme und der Duft nach frisch gerösteten Kaffeebohnen kommen ihnen entgegen.
    „Vielleicht hatte ich nie das Glück, so jemandem zu begegnen“, sagt sie leise, mehr zu sich selbst. In den Gesprächen der anderen Gäste geht es fast unter, aber Ri hat es trotzdem gehört. Jetzt tut ihr ihre Mutter schrecklich leid, weil sie dieses Glück nie erfahren hat. Am liebsten würde sie sie in die Arme schließen und festhalten. Aber sie kann nicht. Immer noch liegt diese Distanz zwischen ihnen.
    „Setz dich doch schon mal“, sagt Ri und deutet auf den kleinen Zweiertisch am Fenster, der noch frei ist. Ihr Lieblingsplatz. Weil man von hier aus die vorbeieilenden Menschen beobachten kann. Als säße man auf einer Wolke und dürfe für einen Moment die Welt ganz still und unbemerkt bewundern.
    Sie holt zwei große Café Latte. Die weißen Schaumkronen erinnern Ri an frisch gefallenen Tiefschnee, in dem man knietief versinken will. Sie mag das Gefühl, wenn der Schaum auf ihrer Zunge zergeht und ihren Gaumen kitzelt. Wie ein Kuss. Wie eine Umarmung.
    „Wer war eigentlich der erste Junge, den du geküsst hast?“, fragt Ri ihre Mutter, die sie verwundert anschaut.
    „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
    „Ach, nur so“, sagt Ri, die keine Lust hatte, ihrer Mutter das Gefühl von Milchschaum im Mund zu erklären.
    „Olaf Kowalski hieß er.“ Frau Lehmann lächelt verklärt. „Der war sehr süß!“
    „Wart ihr zusammen?“
    „Ich weiß nicht“, überlegt sie. „Vielleicht. Er stand jeden Abend vor der Turnhalle und hat mich vom Handballtraining nach Hause gebracht.“
    Wieder lächelt sie, ein erinnerndes Lächeln.
    „Und dann?“, fragt Ri neugierig. Sie wundert sich,
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