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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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seine Blechtute, es würden jetzt noch einige ›Probestiege‹ für geladene Gäste unternommen. Daraufhin sah man, wie verschiedene der städtischen Honoratioren unauffällig Anschluß nach hinten suchten.
    Immerhin gelang es, den dicken Herrn Bezirksdirektor und den zweiten Schriftführer des Gemeinderats über die Strickleiter in die ›Altenburg‹ zu verfrachten, zu denen sich noch der Herr Finanzrat gesellte, der im Siebziger-Krieg wegen Tapferkeit vor dem Feinde das Eiserne Kreuz empfangen hatte. Da der Herr Gasinspektor behauptete, auf Erden dienstlich unabkömmlich zu sein, bestieg stellvertretend seine hübsche, schwarzhaarige Frau den Gondelkorb, was in der Menge allenthalben Bewunderung auslöste.
    »Guck mal, der Andreas heult!« sagte ich zu Bruno – aber da sah ich, daß Bruno gar nicht mehr neben mir stand und auch in weiterer Entfernung nicht zu erblicken war.
    Nun tutete wieder Tante Remmy: ›Leinen los!‹
    Der Feuerwehrmann signalisierte: ›Wasser halt!‹ und ein vorwitziger Trompeter der Stadtkapelle blies die ersten Takte von ›Muß i denn!‹, bis ihn der strafende Blick des Stadtmusikdirektors zum Schweigen brachte.
    Gefüllt mit städtischem Koch- und Leuchtgas, der Kubikmeter zu dreizehn Pfennig, stieg das Wunderwerk menschlichen Erfindergeistes zum erstenmal an diesem Tage in die Lüfte, von starken Männerarmen, zu denen sich auch die wenig überzeugende Muskelkraft des Knaben Andreas gesellte, sorglich an festen Tauen gehalten. Er stieg bis über die Spitzen des großen Gasometers, dessen Glocke leergepumpt war, und wurde sodann auf ein Trillersignal von Herrn Rockezoll zur Erde zurückgeholt. Die aufatmend wieder den Korb verließen, wurden vom Volk mit reichem Applaus bedacht.
    Noch zweimal wiederholte sich das heitere Spiel, und als beim dritten Mal die dicke Frau Fielitz mit nach oben schwebte, sagte der Feuerwehrhauptmann unter dem Gelächter der Umstehenden:
    »Nu kann ich wenigstens meinen Drachen mal steigen lassen.«
    Um elf Uhr dreißig wurde es ernst. Herr Rockezoll hatte sich ein eindrucksvolles neues Kommando ersonnen: »Feld frei!«, woraufhin auch die Honoratioren und Ehrengäste von der Gondel zurücktreten mußten. Der schwarze Bankier stieg asthmatisch keuchend über das Strickleiterchen. Wie ein behendes Äffchen folgte ihm der hauptstädtische Journalist, und mit reiterlicher Eleganz bildete Rittmeister der Reserve Textilfabrikant Kienzel den Abschluß. Man hörte förmlich seine unsichtbaren Sporen klirren. In die atemlose Stille bis zum nächsten Kommando vernahm man Frau Kienzels herzzerbrechendes Schluchzen.
    »Kappt Leinen!«
    Bei diesem Kommando überschlug sich die Stimme Herrn Rockezolls derart kläglich, daß kleinere Lohnempfänger und asoziale Elemente der Stadt – sicher waren die Meisegeiers darunter – schallend zu lachen begannen. Zum Glück wurde dieses würdelose Gelächter vom ›Muß i denn, muß i denn‹ der Stadtkapelle zugedeckt.
    Taschentücher wehten, die Musikinstrumente blitzten, Tausende von Köpfen wendeten sich in Rasierstellung nach oben.
    Dort schwebte jetzt die große silberne Kugel im herrlichen Oktoberblau. Zwei schwarz-weiß-rote Fähnchen oberhalb ihrer Gondel knatterten im Fahrtwind – es war ein erhebender Anblick. Und so tat unser Stadtmusikdirektor das Taktvollste, was überhaupt geschehen konnte: Er ließ die Kaiserhymne anstimmen. Mit steil nach oben gereckten Köpfen sangen wir alle mit – es war gar nicht so einfach.
    Inzwischen geriet der Ballon in eine leise Drift, die aber unbegreiflicherweise von Norden her kam. Doch wehte dieser unfühlbare Lufthauch wohl nur einige Sekunden lang; denn unmittelbar über uns Singenden stand die ›Altenburg‹ still, so daß wir genau den Korbboden von unten besichtigen konnten. Und da geschah das Ärgerliche. Wir schickten uns gerade an, zu singen:
    »Nicht Roß, nicht Reisige
    Sichern die steile Höh,
    Wo Fürsten stehn«, da fiel ein Sandregen in unsere geöffneten Münder. Wir spuckten keuchend und prustend Roß und Reisige und eine Menge trockenen, kratzenden Sandes aus – denselben Sand, den ich gestern erst mit Andreas und Bruno in die Säckchen gefüllt hatte. Ein Gaswerksarbeiter, der immer bei der Maidemonstration mitmachte, nannte es eine Schweinerei.
    Die Silberkugel aber stieg und stieg – senkrecht, immer höher empor, von keinem wie immer wehenden Winde getrieben. Zuletzt war sie lerchenklein, und man hätte sich nicht gewundert, wenn jetzt die
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