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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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gegenüber stand, weniger mächtig als erwartet wirkte, pochte mein Herz und meine Zunge klebte wie ein gewrungener Schwamm in meinem Mund.
    „Du gehörst auch zu denen!“, fuhr er mich an. „Ihr versaut mir das Treppenhaus! Ihr schmiert hier rum! Mit euren dreckigen, kleinen Pfoten!“ Seine fleischige Hand griff nach mir, erwischte mein Ohrläppchen. Die anderen Hand grabschte nach meiner Taille. Ich spürte die kräftigen Finger durch den Stoff meiner Jacke. Sie waren in ständiger Bewegung – als besäßen sie ein eigenes, gieriges Leben – bohrten und kniffen. Ich riss mich los und stammelte ein paar zusammenhangslose Laute. Er grinste. Mein rechtes Ohr schmerzte. Ich sah über seine Schulter und entdeckte, dass ich allein war. Töffel war verschwun-den.
    Ich lief. Wir waren so schnell. Keiner der Alten konnte uns erwischen. Der Kerl im grauen Kittel versuchte es noch nicht einmal. Als ich endlich stoppte, war er ein bewegungsloser Schemen vor dem schwach erleuchteten Treppenhaus.
    „Du Scheißkerl!“, brüllte ich mit überschnappender Stimme.
    Er reagierte nicht. Hinter ihm erlosch das Licht und ich rannte nach Hause.

    Wir besuchten alle dieselbe Schule. Hilko war als Ältester allerdings zwei Jahrgangsstufen weiter.
    Wie so oft, kam ich am nächsten Morgen zu spät. Nur ein paar Minuten, aber unser Erdkundelehrer saß bereits hinter seinem Pult. Am Kartenständer baumelte Skandinavien. Ich huschte auf meinen Platz neben Markus. Der Lehrer warf mir nur einen kurzen Blick zu, ohne den Redefluss über seine Reise als Student mit Fiat 600 und Zelt zum Nordkap zu unterbrechen. Eigentlich bestanden seine Stunden fast ausschließlich aus seinen kuriosen Reiseberichten. Er schien tatsächlich jedes Land, das bisher auf dem Lehrplan stand, besucht zu haben. Ich war gespannt, ob er das bis zu den Polkappen durchhielt. Wir nannten ihn Fisch, wegen seinem vorstehenden Mund, der an das Maul eines Herings erinnerte. Und wegen der immer fettigen, tranig wirkenden Haare.
    Markus grinste mich an und flüsterte mir etwas zu, das ich aber nicht verstand, weil von vorn ein einziges Wort durch den Raum hallte: „NARVIK!“
    Ich zuckte zusammen. Fischs Blick ruhte auf mir. Mit einem feinen Lächeln auf den Heringslippen. Nicht zynisch, eher amüsiert. „Richard wird uns nun die Hafenstadt Narvik auf der Karte zeigen.“ Ich stand auf, fegte dabei ungeschickt mein Etui vom Tisch, versuchte die kichernden Mädchen zu ignorieren und nicht zu erröten. Leo saß eine Reihe vor mir. Er zuckte mit den Schultern und machte ein ratloses Gesicht, als ich an ihm vorbei kam. Entweder tat er damit kund, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo sich Narvik befand oder es bezog sich auf den leeren Stuhl neben ihm. Töffel fehlte.
    Ich musste wohl eine Sekunde gezögert haben, denn Fisch stieß ein langgezogenes „Naaaaa?“ aus. Ich tappte auf die Karte zu und kam mir dabei furchtbar unbeholfen vor. Mein Finger wanderte an der norwegischen Fjordküste nach Norden und pochte auf einen roten Punkt. Narvik stand dort in kleinen, schwarzen Druckbuchstaben.
    Fisch brummte gutmütig und ich war entlassen. Ich liebte es, im Atlas herumzublättern. Mir vorzustellen, wie es in Montevideo oder Bagdad sein mochte. Der Atlas war das einzige Schulbuch, in das ich freiwillig mehr als einen Blick hineinwarf. Fisch wusste das. Obwohl ich mich im Unterricht so gut wie nie meldete. Er war zwar ein Schwätzer, aber gehörte nicht zu denen, die es als Genugtuung ansahen, ihre Schüler bloßzustellen.
    In der großen Pause trafen wir uns mit Hilko vor den Toiletten. Trotz der Verstauchung war er zur Schule gekommen. Mit einem altmodischen Stock als Gehhilfe. Jeden anderen hätte ich für durchgedreht gehalten. Für einen absoluten Streber. Bei Hilko war das anders. Lernen bereitete ihm Vergnügen, war für ihn fast wie eine Sucht. Er wollte wissen. Und das Verrückteste war: Ihm fielen die guten Noten nur so zu. Ich hingegen konnte mir kaum eine Vokabel merken, verstand niemals den Sinn einer Formel und scheiterte an jeder Gleichung mit mehreren Unbekannten.
    Ich erzählte meinen Freunden von Töffel und dem Graukittel im Flur des Hochhauses.
    „Du meinst, der Kerl lauerte ihm auf?“, fragte Leo. Ich nickte.
    „Vielleicht hat unser Kleiner Mist gebaut“, warf Markus ein.
    Hilko kurbelte einhändig an einer Zigarette. „Quatsch! Der doch nicht.“
    „Töffel hatte tierische Angst.“ Ich sah wieder sein verzweifeltes Gesicht vor mir. Er war so
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