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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde
Autoren: Stefan Casta
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berührt. Manny lacht auch lauthals. Dann fangen sie einen Spaßkampf mit mir an, tun so, als wollten sie mit mir boxen.
    Ich weiche zurück, springe auf die Straße.
    »Das heißt, natürlich nur, wenn du nicht nach Hause musst, um Bücher zu lesen«, erklärt Manny und setzt zu einem neuen Angriff auf mich an.
    Ich weiche erneut zurück und lache auch laut, weil ich nicht so recht weiß, wie ich mit der Situation umgehen soll. Aber du rettest mich, Philip.
    »Kimmi kommt mit«, sagst du entschlossen und legst einen beschützenden Arm um meine Schulter. Manchmal denke ich, dass es solche wie du sind, die eines Tages die Erde retten werden. Du bist geboren, damit etwas aus dir wird, ein geborener Führer. Eigentlich denke ich, du wärst der Urtyp eines Pfadfinders oder so. Bevor die Pfadfinder erfunden wurden, muss es ja jemanden gegeben haben, der die Idee dazu gehabt hat. (Ich muss leider zur Verdeutlichung hier etwas hinzufügen: so habe ich dich anfangs gesehen, Philip. Nur diese Seite von dir habe ich damals gesehen.)
    Aber das Pfadfinderleben ist zu banal für Philip. Scouts sind in seinen Augen zu eintönig. Die wandern nur in den nächsten Wald, errichten eine ganze Stadt aus Ästen und Zweigen und leben dann eine Woche lang jeder in seinem Ästehaus, bevor sie wieder alles zusammenpacken, die Zweige wegwerfen und in weißen Minibussen nach Hause fahren. Scouts sind wie Ameisen, findet Philip. Für Philip geht es nur um Vögel. Die haben ihn eigentlich immer schon interessiert. Ich glaube, für uns andere könnte es alles Mögliche sein. Das ist einfach nur eine starke Sache.
    Jetzt redet Philip von der Auerhahnbalz weit drinnen in den tiefen Wäldern. Dorthin sind es fast vierzig Kilometer mit dem Fahrrad und dann noch verdammt lange zu gehen.
    »Aber das ist es wert«, behauptet Philip. »So etwas hast du noch nie erlebt.«
    »Schon möglich«, sage ich dazu.
    Zu dumm, denn »schon möglich« gibt es in Philips Wortschatz nicht. »Schon möglich« ist nur ein anderes Wort für »ja, natürlich«.
    »Stark«, sagt er und boxt mir in den Bauch, um so unsere Abmachung zu bekräftigen.
    Manny nickt eifrig mit seinem Steinkopf. Er tritt einen Schritt vor, um mir auch in den Bauch zu boxen. In dem Moment kommt ein geöffneter Regenschirm herangeweht. Die Krähen fliegen aus den Linden auf. Du hältst inne, Philip, wirfst ihnen einen Blick hinterher. Dann machst du einen Ausfallschritt auf den Astrakanvägen und schnappst ihn dir.
    Jetzt, im Nachhinein, kann ich mich gerade an dieses Detail sehr genau erinnern. Dieser knallgelbe Regenschirm, der plötzlich an uns auf der Straße vorbeirollte, und deine schnelle Reaktion. Es war ziemlich windig in diesem Frühling. Auf allen meinen Erinnerungsbildern weht es.
    Friday night Pia-Maria hat einen rosa Schimmer auf den Wangen und einen triumphierenden Blick. Sie gibt eine Party. Alle kommen.
    »Ich weiß nicht, ob ich kann«, sage ich.
    Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, ob ich will. Die Alternative ist ein Abend daheim im Pfefferkuchenhaus. Ja, vielleicht ziehe ich das sogar vor. Ich weiß, dass PiaMaria glaubt, ich wäre ein Feigling.
    Ich bin ein Feigling.
    Kristin klappert in der Küche. Sie hat ein frisches Hähnchen gekauft, das wie ein Weiches Baby auf der Ar- beitsplatte liegt. Als ich das nächste Mal vorbeigehe, hat sie fertig geklappert. Das, was eben noch ein Hähnchen war, ein Vogel, ist jetzt nur noch eine Menge einzelner Teile und Fetzen, das Herz liegt auf der glänzenden Abtropfplatte. Ein Gedanke durchschießt mein Gehirn. Kannst du es wieder zusammensetzen, Kristin? Kannst du daraus einen neuen Vogel machen?
    Ich habe angefangen Jims alte Bücher zu lesen, einen Roman von Ernest Hemingway. Ich werde in Hemingways Welt aufgesogen. Ich bin nur noch zur Hälfte in meiner eigenen anwesend. Jim meint, Hemingways Bücher wären fantastisch. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Woher sollte ich das wissen?
    Aber als der Abend sich herabsenkt, krieche ich mit meinem Hemingway in die Sofaecke und rieche, wie der Duft nach Hähncheneintopf langsam aus der Küche zu mir dringt. Ja, vielleicht ziehe ich das vor, Pia-Maria. Ich bin es so gewohnt, bei Jim und Kristin zu sein.
    Jim kommt mit einem Schälchen mit Karottenstiften zu mir und nickt zustimmend, als er den Titel auf dem Buchrücken liest.
    »Das ist gut«, sagt er.
    Und er beginnt von Michigan zu erzählen, von dem Herbst dort, wenn die Wälder in roten und gelben Farben erglühen, wenn die Vögel
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