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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde
Autoren: Stefan Casta
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begutachten. Die Leute begannen ihre Kommentare abzugeben. Ein Mann in Tischlerhose mit zwei grauen Plastiktüten vom Alkoholladen in den Händen rief Philip etwas zu. Da nickte dieser uns zu und ging mit dem Haufen in der Hand die Drottningsgatan entlang.
    Als wir ein Stück gekommen waren, konnte ich nicht mehr an mich halten. Ich begann zu lachen. Aber Philip lachte nicht mit. Er schaute mich mit ernster Miene an.
    »Ist es nicht merkwürdig, Kim, dass wir vor so etwas so eine Riesenangst haben?«
    Er hielt mir die Scheiße vors Gesicht, und ich musste mich bremsen, um nicht zu nahe zu kommen. »Doch, ja«, stimmte ich zu.
    »Das hier ist das einzige Natürliche, was wir Menschen produzieren. Und das Nützlichste. Normaler Urin ist der beste Dünger der Welt. Wusstest du das, Kim? Man sollte seine Pisse teuer verkaufen. Trotzdem finden wir, das ist eklig. Aber das ist doch Nahrung. Das lässt alles leben. Alles ist so verkehrt geworden. Wir werden geboren aus einem Frauenschoß, Kim. Der wahre Wert des Lebens, der Sinn des Lebens, das ist eine Frage von Scheiße und Pisse.«
    Da irgendwann hörte ich Philip nicht mehr zu. Stattdessen dachte ich an Tove.
    Ich wachte wieder auf, als er die Wurst in die Büsche vor der Deutschen Kirche warf.
    »Aber das war doch nur Hundescheiße, Philip«, sagte ich.
    Eine andere Welt Das Haus von Toves Großmutter liegt direkt an einem Abhang. Ich merke zu spät, dass Philip und die anderen bremsen, und um nicht in sie hineinzufahren, muss ich zur Seite lenken und komme dem roten Lattenzaun, der den Weg entlang läuft, gefährlich nahe.
    Es knattert in den Speichen.
    Ich schramme mir mein linkes Bein ziemlich auf, die Haut wird abgerieben und es entsteht ein roter Fleck, der reichlich brennt.
    Manny und Pia-Maria lachen über mich. Philip hat seinen großen Rucksack abgenommen und in den Schatten der Hauswand gestellt. Der Hase streckt seine Beine irgendwie lustig von sich.
    Toves Großmutter habe ich noch nie gesehen, und trotzdem habe ich das Gefühl, sie zu kennen. Das liegt daran, dass Tove so viel von ihr erzählt hat.
    Als Tove klein war, wohnte sie den Sommer über bei ihr. Sie hat von den sonnigen Vormittagen erzählt, wenn sie im Garten Unkraut zupften und anschließend Sauermilch mit Blaubeeren auf der Steintreppe vor dem Haus aßen.
    Und wenn ich sie so erzählen höre, dann ist es, als bestünde Toves Leben nur aus den Sommern, aus diesen schönen Erinnerungen. Aus Sonne, Blaubeeren und warmen Steintreppen. Wo alle Herbste und Winter geblieben sind, das weiß ich nicht. Über die hat sie nie ein Wort verloren. Denn meistens saß sie offensichtlich im warmen Sonnenschein auf Omas Treppe.
    Jetzt steht Toves Großmutter auf dem frisch geharkten Kiesweg vor dem Haus und wartet auf uns. Sie hat langes schwarzes Haar, trägt ein blaues Kleid mit weißen und gelben Blumen und eine weiße Schürze darüber. Hinter ihr, auf der Treppe, steht ein Mann. Er hat einen krummen Rücken und dünnes, weißes Haar, in dem der Wind spielt. Ich nehme an, das ist Toves Großvater. Von ihm hat sie nie gesprochen. Oder hat sie das nur vergessen? Er steht fast wie zusammengeklappt oben auf der Treppe und umklammert das Geländer mit einer Hand.
    Zuerst scheint nichts zu passen. Wir sehen einander an. In erster Linie sind sie es, die uns betrachten. Vielleicht sehen wir ja nicht so aus, wie sie es erwartet haben? Vielleicht erschrecken sie Philips camouflage- farbene Militärkleidung und der mit einem Netz überspannte Helm, den er auf dem Kopf trägt. Ich sehe, wie sie Mannys rasierten Schädel mustern, und mich natürlich auch, aber das verstehe ich. Es ist mir schon klar, dass sie nicht jeden Tag jemanden wie mich sehen. Dann schauen sie auch Pia-Maria an, den Ring in ihrer Nase und die schweren Brüste, die auf und nieder wippen.
    Für die alten Leute kommen wir aus einer anderen Welt. Und das tun wir wohl in gewisser Weise auch. Aber sie leben ja in der gleichen.
    Es vergehen ein paar Sekunden. Pia-Marias Atemholen hallt in der Stille wider. Ich warte, dass etwas passiert. Ich brauche etwas zu trinken. Philip muss die Sache in die Hand nehmen, wie immer. Aber jetzt ist es natürlich Tove, die etwas sagt.
    »Hallo Oma!«, ruft sie, läuft vor und wirft sich der Frau mit der Schürze um den Hals.
    Dann wendet sie sich uns zu, winkt uns heran, und während wir vorsichtig über den Kies, der unter unseren schweren Stiefeln knirscht, näher kommen, höre ich, wie sie erzählt, wer wir sind,
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